Platons Menon, das Anamnese-Konzept und das Sklavenbeispiel

Platons Menon

Platos Dialoge nehmen eine Mittelstellung ein zwischen Philosophie und Literatur.
Sie verarbeiten eine zentrale philosophische Frage in einem Dialog, in der Regel zwischen dem in Athen stadtbekannten Philosophen Sokrates und wechselnden Kontrahenten. In unserem Dialog ist das ein Athener mit dem Namen Menon. Die jeweiligen Kontrahenten fungieren dann auch als Namensgeber für die entsprechenden Dialoge.

Ganz im Stile einer sophistischen Eristik (rhetorische Streitlehre) versuchen Menon und Sokrates in der Eingangssequenz eine Definition von „Arete“ zu destillieren. „Arete“ ist ursprünglich die ererbte Kompetenz des Adels (von aristos, der oder das Beste), sich im öffentlichen Bereich erfolgreich zu verhalten. (Die landläufige Übersetzung mit Tugend wird dem Begriff eigentlich nicht gerecht. Sie bezieht sich auf ein ganzes Geflecht von Haltungen, Einstellungen aber auch Kompetenzen die ursprünglich einem idealen Adligen zugeschrieben werden).

Menon versucht zunächst, Sokrates auf die Probe zu stellen und möchte gerne eine Antwort von ihm auf die Frage, ob „Arete“ lehrbar sei oder nicht. Sokrates verneint die Möglichkeit der Lehrbarkeit, ja er behauptet, nicht einmal zu wissen, was Areté eigentlich sei. In der Folge dreht Sokrates den Spieß um und versucht, den Menon zu einer eigenen Begriffsklärung anzuleiten. Hintergrund für dieses Verfahren ist die Platonische Vorstellung von der Anamnese.

Die Anamnese und das Sklavenbeispiel

Die Seele als der Träger aller menschlicher Erkenntnis hat im Verlaufe ihrer zahlreichen Wiedererstehungen „Alles“ schon geschaut und daher „gibt es nichts, was sie nicht weiß.“ Und daraus leitet sich auch die Schlussfolgerung ab, die an Radikalität kaum zu überbieten ist. „Das Suchen und das Lernen ist also gänzlich Wiedererinnerung, in griechischer Sprache Anamnese.

Um diesen Gedanken beweisen zu können, lädt Sokrates seinen Gesprächspartner Menon zu einem Experiment ein, das nachmals so berühmt gewordene Sklavenbeispiel. Bewusst wählt Sokrates als „Gegenstand“ des Experimentes einen

Sklaven, der angeblich keinen Kontakt mit der Mathematik gehabt hat. Er befindet sich gewissermaßen im Zustand kognitiver Unschuld. Wichtig für das Verständnis des Folgenden ist, dass Sokrates nachzuweisen versucht, dass alles was der Sklave
an Erkenntnis generiert, ihm nicht von Sokrates beigebracht wurde, sondern er sich durch entsprechend gestellte Fragen an schon vorgängig Gewusstes lediglich erinnert.

Wir wollen im Folgenden dem Gedankengang Schritt für Schritt folgen. Er beginnt damit, dass er dem Slaven eine geometrische Figur zeigt und diese mit dem eingeführten Namen des Quadrats belegt. Er verständigt sich auch mit ihm mittels Fragen auf die Definition, dass ein Quadrat aus vier gleich langen Seiten besteht. Die Länge des Beispielquadrats soll ein Fuß betragen.

Er geht dann weiter, indem er den Sklaven befragt, wie groß ein Quadrat wäre das an einer Seite zwei Fuß lang und an einer Seite ein Fuß lang. Die Antwort kommt prompt: Offenbar zwei Quadratfuß.

Er fährt in seiner Fragetechnik fort und fragt, wie groß die Fläche ist, die an jeder Seite zwei Fuß lang ist. Auch hier ist die Antwort einfach: Zwei mal zwei Füße, also vier Quadratfuß.

Er befragt ihn weiter, wie groß denn dann eine doppelt so große Fläche sein müsste . Der Sklave antwortet prompt und richtig: Acht Quadratfuß.

Im Folgenden erfragt Sokrates, wie lange denn wohl eine Seite eines acht Quadratfuß großen Quadrates sein müsse. Der Sklave antwortet spontan und falsch: Doppelt so lang. Er meint damit natürlich vier Fuß.

Sokrates weiß das natürlich und lässt ihn die vermeintliche Lösung aufmalen.

Der Sklave erkennt sofort, dass das nicht die richtige Lösung ist, da es sich um das Vierfache handelt, nicht um das Doppelte.

Sokrates führt ihn nun mittels Fragen zu der Erkenntnis, dass ein doppelt so großes Quadrat also eine Seitenlänge haben müsse, die größer ist als zwei Fuß und kleiner ist als vier Fuß. Logisch, da zwei mal zwei vier ergibt und vier mal vier sechzehn, gesucht ist aber ein Quadrat mit der Fläche von acht Fuß.

Nun verlegt sich der Sklave aufs Raten und nimmt neun Fuß. Sokrates beweist ihm nun immer mittels Veranschaulichung und Fragen, dass drei Mal drei neun ergibt und nicht acht.

Wir befinden uns nun im Herzen des sokratischen pädagogischen Konzeptes. Er führt den Gesprächspartner in eine Situation, in der er nicht weiter weiß. Er hat aber gewissermaßen dessen Neugier geweckt, da er ihn an die Fragestellung so herangeführt hat, dass ein vorgängig nicht vorhandenes Problembewusstsein geweckt wurde.

In moderner Diktion erkennen wir natürlich das sogenannte Konzept der „kognitiven Dissonanz“ wieder. Eine Situation wird herbeigeführt, bei der eine implizite oder explizite Theorie mit einer kontrastierenden Erfahrung oder konfrontiert werden. Die resultierende Ohnmachtserfahrung führt nun zu einer gerichteten Anstrengung, diese abweichende Erfahrung entweder durch eine Veränderung der Ausgangstheorie oder durch eine Ausdifferenzierung des Erklärungsbereiches der Ausgangstheorie in die eigene Theoriewelt einzupassen.

Sokrates: Indem wir ihn in die Lage trieben, nicht
weiterzuwissen, und ihn wie der Zitterrochen betäub-
ten, haben wir ihm dadurch wohl geschadet?

Menon: Das glaube ich nicht.

Sokrates: Wir haben statt dessen anscheinend etwas gemacht,
was ihm zustatten kommt, wenn er herausfinden will,
wie es sich wirklich verhält. Denn jetzt möchte er
gerne die Antwort suchen, die er nicht weiß…

Sokrates fährt nun in seinem Frage und Antwort-Spiel fort. Wir wollen einen weiteren Ausschnitt davon zitieren, um einen Eindruck von der Qualität der Beweisführung zu bekommen:

„Sokrates: Was weiter? Dieses Ganze hier ist das Wievielfache
von diesem?

Sklave: Das Vierfache.

Sokrates: Wir wollen aber das Doppelte bekommen, oder
erinnerst du dich nicht?

Sklave: Doch freilich.

Sokrates: Schneidet nicht diese Linie von Winkel zu Winkel
jedes dieser Quadrate in zwei Hälften?

Sklave: Ja

Sokrates: Bekommen wir so nicht diese vier gleichen Linien,
die diese Fläche einschließen.

Sklave: Ja, die bekommen wir.

Sokrates: Überleg nun wie groß ist diese Fläche?“

Und jetzt fährt Sokrates seine Ernte ein. Von welcher Linie bekomme man also das Doppelte an Fläche?

Sokrates: Von welcher Linie bekommen wir es?

Sklave: Von dieser.

Sokrates: Von der Linie, die sich im Quadrat von Winkel zu
Winkel spannt.

Sklave: Ja.

Sokrates: Nennen die Gebildeten diese Linie nicht Diagonale?
Wenn der Name dieser Linie also Diagonale ist,
bekommen wir von der Diagonalen, wie du sagst,
mein Junge, das doppelt so große Quadrat.

Sklave: Genau so ist es, Sokrates.

Noch einmal zur Erinnerung: Gesucht war das Doppelte von vier Quadratfuß, nämlich acht Quadratfuß. Die geometrische Lösung war das Quadrat, das sich über der Diagonale des Ausgangsquadrates erhebt. Implizit ergibt sich natürlich auch die Erkenntnis, dass das Quadrat über der Diagonalen immer den doppelten Rauminhalt des Ausgangsquadrat ergibt.

Anamnese

Zunächst einmal wollen wir uns der eingeführten Figur des anonymen Sklaven zuwenden. Sokrates sucht sich ja nicht ohne Grund einen Sklaven als Demonstrationsobjekt aus.Der Sklave soll ein Veranschaulichungsmodell für eine Personabgeben,die sich gewissermaßen im Zustand absoluter mathematischer Naivität befindet. Eine Person, die nicht aus gebildetem Hause stammt, die nicht aufgrund von unglücklichen Umständen auf dem Sklavenmarkt gelandet ist – wie das ja bekanntermaßen auch Platon selbst einmal passiert ist – sondern ein „Barbar“, möglicherweise ein Kriegsgefangener.

Wir kennen solche Menschen auch heute noch. Angehörige indigener Völker ohne irgendeinen kulturellen Bezug zu dem, was wir Zivilisation nennen. Vielleicht ein Angehöriger der Janomami, bevor diese in den Blickfeld von Ethnologen und dann in den Fokus der Weltmedien gelangt sind.

Würde ein moderner Plato bei einem qualitativen Experiments mit einem Angehörigen eines indigenen Naturvolkes zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie in seinem Denkexperiment?Das ist stark zu bezweifeln. Wir wissen aus Untersuchungen, dass indigene Völker zwar mit dem Konzept einer Geraden durchaus etwas anzufangen wissen, aber trifft das auch für die übrige überaus voraussetzungsreiche Beweisführung zu?Schon der Sprung von der Linie zum Quadrat setzt verstandene mathematische Konzepte wie den rechten Winkel voraus. Dass ein Quadrat eine Figur mit gleichenSeiten und rechten Winkeln ist und dass die Fläche eines Quadrats sich aus dem Produkt der Länge der einen Seite ergibt und dass diese Fläche praktischerweise Quadratfuß heißt, dürfte die Einsichtsfähigkeit unseres „Modellbarbaren“ bei weitem überschreiten. Und damit hat es ja nicht sein Bewenden…

In Wahrheit ist es doch eher so, dass wir als gebildete Menschen über gelernte mathematische Konzepte und darüber hinaus über ein komplexes Set von Anwendungsregeln meist impliziter aber zuweilen auch expliziter Natur verfügen müssen. Wie kann man Flächen verdoppeln, verdreifachen oder auch wieder teilen….Das lässt sich alles lernen. Aber Schritt für Schritt. Das spricht für eher für eine angeborene Fähigkeit, abstrakte Formen und Anwendungsregeln erlernen zu können als für ein in allen Bestandteilen vorgeformtes Wissen.

Das Ergebnis ist eben nicht voraussetzungslos vorhanden, sondern setzt eine fortgeschrittene Sprachlichkeit voraus, um das Verständnis für die dargestellten Sachverhalte zu erwerben. Also auch einen im Medium der Sprache ausgebildetenlogischen Verstand. Es spricht Vieles dafür, dass sich diese Fähigkeiten Hand in Hand ausbilden und ein kulturelles Ganzes ausbilden.

Wir habe es also mit einem kompletten Set kulturellen Wissen zu tun, wie es sich im Rahmen einer entwickelten Gesellschaft im Laufe von Jahrhunderten herausgebildet hat.

Aber Plato verfolgt auch ein didaktisches Ziel. Er will demonstrieren, dass sich die angezielten Erkenntnisse im Verlauf eines Prozesses „von selbst“ einstellen werden. Entsprechende Anstrengung vorausgesetzt. Nach einer – modern gesprochen –„kognitiven Dissonanz“ ergibt sich eine entsprechende „Bedürfnisspannung“, die dazu verleitet, mit vermehrter Anstrengung nach der Lösung zu suchen. Das ist an sich nicht falsch. Erst die Nichtübereinstimmung vorhandener Erklärungskonzepte mit abweichenden Informationen führt im Idealfall zu einer neuen, angepassten Erkenntnis. Doch löst das Beispiel die Erwartung ein? Sokrates will ja Menon erläutern, dass man einen Begriff von Areté nicht lehren kann,aber diesen nach entsprechender eigener Anstrengung finden kann. Nur dafür wählt er das Sklavenbeispiel. Doch kommt jemand von selbst auf diesen Dreh? Wohl kaum. Insofern ist der Sklave in eine paradoxe Situation gestellt. Eine kognitive Spannung wird aufgebaut, aber der Lernende kann nicht von selbst auf die Lösung kommen.

Eigentlich handelt es sich beim Sklavenbeispiel um einen mathematischen, besser einen geometrischen Beweis. Die Fläche eines Quadrates über der Diagonale eines Ausgangsquadrates besitzt die doppelte Fläche des Ausgangsquadrates. Das Sklavenbeispiel ist der Nachvollzug einer eleganten Problemlösung, die einmal ein anderer gefunden hat. Plato veranschaulicht eigentlich nur, dass man einen Beweisprozess nachvollziehen kann, wenn man über das entsprechende mathematische und logische Werkzeug schon verfügt.

Die sokratische Mäeutik

Sokrates nennt sein didaktisches Modell „Mäeutik“ also Hebammmenkunst. Sokrates versucht, den Gesprächsteilnehmer durch entsprechende Fragen in eine ausweglose Situation zu führen. In dieser Situation beginnt dann der eigentliche selbständige Weg des Auseinandersetzens mit dem Problem. In moderner Diktion spricht man von problematisierendem Lernen, wenn man mit bewusst eingeführten Widersprüchen operiert, um die Auseinandersetzung mit scheinbaren Gewissheiten zu stimulieren. Emanzipatorische Lernprozesse setzen dann ein, wenn man sich der „ideologischen“ Bedingtheit der eigenen Lebensmaximen bewusst wird und die neuen Erkenntnisse in die eigene Lebensführung integriert.

Schon den Zeitgenossen ist die manipulative Dimension der sokratischen Mäeutik
aufgefallen. Sokrates gibt vor, nichts zu wissen, führt den Gesprächspartner aber dennoch durch seine Fragen wie am Nasenring durch die Manege. Die dabei

ausgelösten Ohnmachtserfahrungen haben auch zwischenmenschliche Dynamiken zur Folge. Die sokratische Technik der Gesprächsführung war sicherlich mit ein Grund, dass Sokrates von den Zeitgenossen mit den in gewissen Kreisen verhassten Sophisten in Verbindung gebracht wurde. Die kritische Darstellung des Sokrates in den „Wolken“ des Aristophanes hat beispielsweise mit den Boden bereitet für das spätere Todesurteil im Jahr 399 v. Chr.

 


 

Literatur

Quelle

Plato: Menon. Griechisch/Deutsch.Übersetzt von Margarita Kranz. Stuttgart 2005

Sekundärliteratur

Festinger, Leon; Carlsmith, James M.: Cognitive Consequences of Forced Compliance, Journal of Abnormal and Social Psychology 58, 1958

Lewin, Kurt: Vorsatz, Wille und Bedürfnis: mit Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und die Struktur der Seele. Springer, Berlin 1926

Mollenhauer, Klaus: Erziehung und Emanzipation. PolemischeSkizzen. 4. Auflage. München 1970.

Mollenhauer, Klaus: Theorien zum Erziehungsprozess: Zur Einführung in erziehungswissenschaftliche Fragestellungen, 1972.