„Kulturentwicklung“ in einer militärischen Spezialabteilung

Kultur ist ein schillernder Begriff. Zunächst einmal ist Kultur ein positiv konnotierter Begriff. Wer von Kultur spricht, meint die Anwesenheit und das Wirksam werden von Werten, die mit äußerer Bildung aber auch mit innerer „Herzensbildung“ zu tun haben. Wer eine klassisch-humanistische Bildung genossen hat, wer sein Denken und Handeln an Goethe und Schiller orientiert, dem werden Stil, Anstand und formvollendetes aber auch verantwortliches Handeln gegenüber der Gesellschaft und den Mitmenschen zugeschrieben.

Gleichzeitig spricht man aber von Kultur, wenn man die Gesamtheit der in einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe wirksamen Werte, Normen und Tabus benennen will. Bei dieser Verwendungsweise verliert sich die ursprüngliche und ausschließlich positive Konnotation des Begriffs. Kulturen können Kulturen aber auch Unkulturen sein, je nach persönlichem Standpunkt.

In diesem Sinne soll auf den folgenden Seiten von der „Kultur“ einer militärischen Spezialeinheit die Rede sein. Die Entstehung bestimmter Handlungsweisen wird dabei einer strikt funktionalistischen Betrachtungsweise unterworfen werden. Es soll untersucht werden, wie es zu – für Zivilisten einigermaßen befremdlichen Verhaltensweisen – der Mitglieder einer Spezialeinheit kommen kann.

In einem Buch von Kevin Dutton über Alltagspsychopathie wird ein ehemaliger Angehöriger der britischen militärischen Spezialeinheit SAS zitiert, der ausführlich über die Kultur im Umgang untereinander erzählt, und was man so liest, ist schier unglaublich.

„Mit als Erstes fallen dir dort die Sticheleien auf. Jeder zieht ständig über jeden her. Macht sich über ihn lustig. Und wie bei den meisten Sachen im Regiment gibt es dafür einen guten Grund.“ (Mc Nab zit. bei Dutton 2013, S. 185)

Mc Nab beschreibt zunächst einmal das allgemeine Klima in dieser Spezialeinheit der englischen Armee im Umgang untereinander. Zu Recht glaubt er, dass es dafür einen guten Grund geben müsse. Und er meint ihn auch zu kennen. Es ist die individuelle Abhärtung gegen eine zu befürchtende Folter, wenn man denn vom Feind gefangen genommen würde.

„Im Regiment kennt man keine Gnade. Das AufeinanderRum-hacken hat seinen Sinn. Es ist eine effiziente Art, die psychische Immunität zu stärken. Es härtet dich ab gegen den Mist, den sie dir an den Kopf werfen, wenn sie dich gefangen nehmen. Es ist die richtige Art von Boshaftigkeit, wenn du verstehst, was ich meine. Außerdem gibt es nichts Besseres, als jemanden so richtig schön zu verarschen, oder?“ (Mc Nab zit. bei Dutton 2013, S.186 )

Diese Erklärung darf bezweifelt werden. Es dürfte einigermaßen schwerfallen von Seiten der Ausbilder ein so ausgeprägtes Binnenklima zu induzieren, wenn die Mehrzahl der Mannschaft andere Bedürfnisse im Umgang untereinander hätten.

Eine andere Erklärung für die Funktionalität dieses Phänomens liegt eigentlich auf der Hand. Eine Spezialeinheit ist immer in Lebensgefahr. Selbst im alltäglichen Dienstvollzug läuft die zukünftige Gefährdungssituation als gedankliche Vorwegnahme des Ernstfalls ständig mit.

Das dominante Thema in einem solchen Setting heisst denn auch: Wie gehen die einzelnen Mitglieder der Einheit mit ihrer Angst um.
Es gibt, nebenbei bemerkt, nichts „Zersetzenderes“ als wenn die Angst ständig mitläuft, indem sie immer wieder thematisiert wird.

„Wir haben immer rumgeflachst«, erinnert Andy sich. »Rumgealbert. Wir haben zum Beispiel unsere Ausrüstung abgeworfen und dann probiert, ob wir sie einholen können. Oder wir haben einander auf dem Weg nach unten von hinten umklammert und geguckt, wer als Erster den Schwanz einzieht – wer als Erster ausschert und die Reißleine zieht. Wir hatten echt Spaß.“ (Dutton 2013, S.187 )

Was hier thematisiert wird, ist die Demonstration von Furchtlosigkeit. Wer ist der Furchtloseste im Umgang mit Lebensgefahr? Damit ist natürlich auch das Gegenteil angespielt. Wer ist das größte Weichei? (Anm.:1)

Die größte Gefahr für solche Systeme ist der Zusammenbruch der Norm. Niemand kann und darf sich eine Schwäche leisten, denn eine Blöße ist ein Einfallstor für unerwünschte Gefühle.

Wir besichtigen an diesem Beispiel die Angänge der Etablierung einer Wertehierarchie und im gleichen Atemzug die Etablierung einer auf Konkurrenz basierenden Binnenhierarchie. Derjenige zählt in dem Spiel am meisten, der die geringste Furcht „zeigt“. Angst vor den eigenen Leuten ist häufig schlimmer als vor dem Feind.

Der scheinbar Verwegenste ist oben. Dabei ist nicht einmal gesagt, dass derjenige, der das Spiel gewonnen hat, derjenige ist, der am wenigsten Furcht hatte. Er ist derjenige, der seine Ängste am besten „im Griff“ hat. Aber – und das ist das Entscheidende – alle bleiben mit ihrer Angst allein. Der Sinn des Spiels besteht ja gerade darin, dass die Angst kulturell ausgeblendet bleibt, obwohl sie der eigentliche Anlass für das Spiel ist.

Zusammengefasst heißt das: Die Funktionalität des Spiels besteht darin, die Angst kulturell zu tabuisieren, indem man den Umgang mit Lebensgefahr zum Spiel umdeklariert. Es handelt sich im eigentlichen Sinne um einen kulturellen Verdrängungsprozess.

Noch ein Wort zur Rolle der Führung in solchen Prozessen: Man weiß aus Erfahrung, dass es im Grunde immer eine unsichere Angelegenheit ist, solche Typen von Kulturen gewissermaßen von oben induzieren zu wollen. Das kann klappen, muss aber nicht. Aber nicht selten entwickeln Kulturen, quasi von sich aus, adäquate Formen, mit spezifischen Herausforderungen umzugehen.

Verweilen wir kurz noch einmal bei dem „Mutspiel“ in den Lüften. Es ist schwer vorzustellen, dass man so etwas von oben befehlen kann. In vielen Armeen dieser Welt würden solche Spielchen sofort verboten. Die Ausbildung eines Elite-Soldaten ist teuer, außerdem ist man ja eigentlich auch für das Wohlergehen seiner Soldaten verantwortlich. Was soll man schließlich den Familienangehörigen sagen, wenn ihr Sohn, Vater oder Ehemann bei einem Übungssprung wegen sträflichen Leichtsinnes zu Tode gekommen ist. Kurz: Es bedarf auch einer spezifischen Hoch-Risikokultur in der Führung. Man kann natürlich solche Entwicklungen nicht nur durch „wegschauen“ befördern, sondern außerdem, indem man bei der Ausbildung informell Bezug nimmt und insbesondere waghalsiges Verhalten durch Wertschätzung belohnt.

 


 

Anmerkungen

1) Ein funktionales Äquivalent für die hier dargestellte kulturelle Variante der Bekämpfung von Angst ist die Ausgabe einer Extra-Ration Alkohol. Die meisten Armeen dieser Welt haben sich dieses Mittels im Laufe ihrer Geschichte bedient.

Ein weiteres funktionales Äquivalent ist der Drill, der beispielweise in den vornehmlich gepressten Heeren des Absolutismus seinen Ausdruck fand. Hier ist die Angst vor den drakonischen Strafen größer als die Angst im Gefecht. Hier sei auch noch einmal an die Erschießungen im Zweiten Weltkrieg wegen Feigheit vor dem Feind erinnert sowie an den gewaltigen Druck an der Heimatfront, einen substanziellen Beitrag für Führer, Volk und Vaterland zu leisten. Hierher gehört auch das Institut des Heldentods.

Literatur

Dutton, Kevin: Psychopathen. Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann. München 2013
Mc Nab, Andy: Immediate Action, London 1995