Grimm des Achilles - ein aus dem Ruder gelaufener Führungsdialog
Die Ilias
Im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hat der Dichter Homer einen Ausschnitt aus dem sogenannten trojanischen Krieg in insgesamt vierundzwanzig Gesängen und vielen tausend Versen aufgeschrieben. Die Ilias
Die Ilias beginnt mit einem Konflikt zwischen Agamemmnon und Achilles. Achilles ist der tapferste und stärkste Krieger des griechischen Heeres, der König der Myrmidonen. Agamemmnon ist der gewählte Befehlshaber des griechischen Expeditionskorps, welches sich aus Kämpfern unterschiedlicher, voneinander unabhängiger Kleinkönigtümer zusammensetzte.
Der Konflikt zwischen Agamemmnon und Achilles führt dazu, dass sich Achilles aus dem Krieg zurückzieht und dass die Griechen durch den Trojaner Hektor an den Rand einer Niederlage gebracht werden. Das Schlachtenglück wendet sich erst wieder als Hektor den Patroklos, den Freund des Achilles, im Kampf erschlägt und dieser daraufhin Rache schwört. Im Kern also eine Episode, die den Lauf der Geschichte nicht gewendet, wohl aber aufgehalten hat.
Der Konflikt zwischen Agammemmnon und Achilles kann als ein perfektes Lehrstück für eine nahezu naturgesetzlich misslingende hierarchische Konfliktdynamik gelten. Homer modelliert überzeitliche Konfliktmuster und Eskalationsdynamiken heraus und entwickelt eine Miniatur von höchster darstellender Qualität, die auch ohne die Einbettung in den trojanischen Krieg überzeitlichen Wert für sich beanspruchen kann. Wir wollen im Folgenden mit dem Instrumentarium moderner Kommunikations- und Konflikttheorie diese Sequenz nachzeichnen und unter dem Blickwinkel moderner Hierarchieforschung interpretieren.
Der Grimm des Achilles
Die Gesänge um den Fall von Troia beginnen mitten im Belagerungskampf vor Troia durch die Griechen und sie beginnen mit einer existenziellen Krise der griechischen Belagerungsmannschaft. Es wird sofort klar, was die Krise der Griechen hervorgerufen hat. Es ist der Grimm des Achilles. Achilles ist schuld und sein verfluchter Grimm. (Die folgende Übersetzung ist Schadewald 2002 S.7, mit zwei Änderungen – hier fett gedruckt – in Anlehnung an Latacz 2003 S95ff)
Den Grimm singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus,
den verfluchten, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte
Und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf
Von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden
Und den Vögeln zum Mahl, und es erfüllte sich des Zeus Ratschluss-
Von da beginnend, wo sich zuerst im Streit entzweiten
Der Atreus-Sohn, der Herr der Männer, und der göttliche Achilleus. (Anm1)
Der Zorn des Achilles ist aus einem Streit erwachsen und zu einem Streit gehören bekanntermaßen zwei. Achilles ist der tapferste und stärkste Krieger des griechischen Heeres. Agamemmnon ist der gewählte Befehlshaber des griechischen Expeditionskorps, welches sich aus Kämpfern unterschiedlicher, voneinander unabhängiger Kleinkönigtümer zusammensetzte.
Was war passiert?
Im Heer der Griechen vor Troja tobt eine Krankheit. Die Verantwortungszuweisung durch den Dichter ist eindeutig. Agamemmnon ist schuld. Er hatte Chrises‚ den Priester des Apollo düpiert und damit auch den Gott schwer mißachtet. Dieser verflucht daraufhin das griechische Heer.
Nachdem die Krankheit einige Zeit gewütet hatte, ruft Achilles, der stärkste Krieger des griechischen Heeres, das Heer zu einer Versammlung ein. Er will einen Seher befragen, was die Krankheit ausgelöst hat, und wie man ihr beikommen könne. Die Wahl fällt auf Kalchas, doch dieser bedingt sich erst die Unterstützung des Achilles aus, wenn denn seine Prophezeiung das Missfallen des Heerkönigs erregen würde.
Mit der Einführung des Sehers Kalchas wird auf eine Episode in der Frühphase des Trojanischen Krieges verwiesen, die in der Ilias nicht namentlich erwähnt wird. Wir wollen sie kurz rekapitulieren, da sie für das Verständnis der Konfliktdynamik nicht unerheblich ist.
Agamemmnon hatte in einem heiligen Hain der Artemis eine der Göttin heilige Hirschkuh getötet. Dabei hatte er auch noch damit angegeben, der bessere Jäger als die Göttin zu sein. Die Göttin hatte daraufhin eine Windstille ausgelöst, die das Heer auf ihrer Fahrt nach Troia auf der Insel Aulis festsetzte. Der Seher Kalchas hatte daraufhin geweissagt, dass Agamemmnon seine Tochter Iphigenie als Sühneopfer töten müsse, um dem Heer die Weiterfahrt zu ermöglichen.
Schon einmal hatte es also einen Missklang mit den Göttern gegeben. Agamemmnon wird als einer gezeichnet, der offenbar öfter die Ordnung des Kosmos durcheinander bringt, eine Todsünde bei den Griechen und für den Befehlshaber eines antiken Expeditionsheeres eine unheilbringende Eigenschaft.
Der Konflikt
Letzten Endes handelt es sich bei dem ersten Gesang der Ilias um den aufs Äußerste zugespitzten Konflikt zwischen dem Mächtigsten jener Zeit und dem Stärksten. Der Missklang beginnt schon damit, dass es Achilles ist, der die Heeresversammlung einberuft. Nach unserem Verständnis von Hierarchie eigentlich die Aufgabe von Agamemmnon. Handelt es sich bei der Einberufung der Heeresversammlung schon um einen Affront? Spiegelt sich schon hier die unaufgelöste Machtfrage oder war es das gute Recht Achilles, das Heer aus Eigeninitiative einzuberufen? Begeistert wird Agamemmnon sicher nicht gewesen sein.
Und jetzt auch noch die vorausschauende Absicherung des Kalchas. Er wird innerlich mit den Zähnen geknirscht haben bei diesen Worten:
„Denn mächtiger ist ein König, wenn er zürnt einem geringeren Mann.
Mag er den Zorn auch am selben Tag hinunterschlucken,
so hegt er den Groll auch hernach noch, bis er ihn erfüllt hat,
in seiner Brust. Doch du bedenke, ob du mich schützen wirst.
Kalchas verlangt also den Schutz des Achilles, weil er seinem obersten Kriegsherrn misstraut. Achilles gibt seine Zusage, ohne zu zögern. Dass Kalchas den Agamemmnon richtig eingeschätzt hat, erweist sich bei der Antwort des Königs.
Unglücks-Seher! Nie hast du mir je das Gedeihliche geredet!
Immer ist dir lieb in deinem Sinn, das Üble zu künden,
Doch ein gutes Wort hast du nie gesprochen noch vollendet!
Agammemmnon hatte die Tochter eines Priesters geraubt und sie zu seiner Sklavin gemacht. Kalchas fordert die Rückgabe der Tochter an den Vater, um den Fluch der Götter rückgängig zu machen.
Doch auch so will ich sie zurückgeben, wenn dies das Bessere ist.
Will ich doch, dass das Volk heil sei, statt dass es zugrunde geht.
Aber mir bereitet sofort ein Ehrgeschenk, dass ich nicht einzig von den
Argeiern ohne Geschenk bin, da sich dies auch nicht geziemt.
Hätte doch Agamemmnon einen Augenblick länger überlegt, dann wäre ihm diese Äußerung sicher nicht so leicht über die Lippen gekommen. Dann hätte er bemerkt, in was für eine Gefahr er sich begibt. Das ist bezeichnend für diesen König. Er kann sich nicht zurücknehmen und den Sachverhalt einfach mit einer überlegten und überlegenen Handlungsweise bereinigen. Nein! ihm geht es um seinen Status. Er fühlt sich herabgewürdigt, seiner Stellung beraubt. Und folglich beruft er sich auch auf den Brauch. Es geziemt sich nicht, ohne Geschenk zu bleiben.
Letztlich waren vielleicht die vorausgehenden Kränkungen schon zu viel gewesen: Achilles beruft das Heer ein. Es stellt sich heraus, dass er selbst, Agamemmnon, der Verursacher des Desasters ist. Er muss es sich von einem Seher, Kalchas, sagen lassen, der ihm sowieso schon verhasst war. Er muss mit anhören, dass dieser seine charakterliche Integrität in Zweifel zieht und von Achilles eine Schutzzusage erbittet, als ob Achilles der König wäre und nicht er selber.
Meisterhaft wie der Dichter mit wenigen Strichen darstellt, wie eine eskalierende Interaktion nicht einfach bei Null anfängt. Die Struktur der Interaktion ist schon gegeben, die Kommunikationsstrukturen sind schon gelegt. Die Ausgangssituation ist nicht mehr zu eruieren und man kann auch nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen, wer denn eigentlich der Schuldige an dieser Entwicklung ist. Das zeigt sich schon bei der Antwort des Achilles. Eine moderne Lösung hätte vielleicht darin bestanden, einen Kompromiss zu finden: „Das ist wieder typisch für den Chef! Aber wir werden schon noch ein angemessenes Geschenk auftreiben“. Aber diesen Ausweg verlegt Achilles.
„Atreus Sohn, Ruhmvollster! Du Habgierigster unter allen!
Wie sollen dir denn ein Ehrgeschenk geben die hoch gemuten Achaier?
Wissen wir doch nicht, dass irgendwo viel Gemeingut liegt,
sondern was wir von den Städten erbeuteten: Aufgeteilt ist es,
Und nicht gehört sichs, dass die Männer dies wieder herbringen und zusammenwerfen.
Darum gib du jetzt diese dem Gott hin, und wir Achaier
Werden es dreifach und vierfach zurückerstatten, wenn Zeus denn einmal
Gibt, die Stadt Troja, die gutummauert zu zerstören
Und dennoch. Der aus dem Ruder laufende Konflikt holt noch einmal tief Luft. Eigentlich ist die Antwort von Achilles ganz vernünftig. Wenn, ja wenn, dieses Wort vom Habgierigsten nicht im Raum stünde. Wie wir Agamemmnon mittlerweile kennen, wird er nicht darüber hinweghören können und das in der Antwort enthaltene Angebot wahrnehmen. Wie ja so häufig in solchen Situationen der Ton die Musik macht und die Protagonisten des Konfliktes schon bei scheinbar nebensächlichen Bemerkungen auf „Autopilot“ schalten.
„Nicht, so tapfer du bist, gottgleicher Achilleus!,
Sinne so auf Trug: du wirst mich nicht hintergehen und bereden!
Oder willst du, daß du selber ein Ehrengeschenk hast, ich aber
Nur so sitze und darbe, und von mir verlangst du, jene zurückzugeben?
Ja, wenn mir ein Ehrengeschenk geben die hoch gemuten Achaier,
meinem Herzen entsprechend, so daß es gleich an Wert sei
Geben sie es aber nicht, so werde ich es mir selber nehmen.
Entweder deines oder des Aias Ehrgeschenk oder des Odysseus
Hole ich mir: der mag dann zürnen, zu dem ich komme!-
Doch wahrhaftig! Das können wir auch später noch einmal bedenken.
Aber jetzt wird es aberwitzig. Man könnte, ja müsste sich jetzt eigentlich fragen: Ist denn Agamemmnon noch ganz bei Trost? Er ist auf dem besten Wege, einen kaum reparablen Konflikt mit Achilles vom Zaun zu brechen. Gleichzeitig bezieht er ohne Not, die zwei, neben Achilles wichtigsten Kämpfer, in diesen Konflikt hinein. Die beiden werden nicht gewusst haben, wie ihnen geschieht. Eben noch ging es darum, einen Schaden vom Heer abzuwenden, der von Agamemmnon herbeigeführt wurde. Jetzt geht es schon um ihre Ehrengeschenke, letztlich auch um ihr Ansehen im Heer.
Was denkt sich Agamemnon? Wenn es ihm darum geht, seine Autorität wiederherzustellen, muss er den, der diese in Frage stellt, für andere nachvollziehbar, in die Schranken weisen. Das ist ihm bisher nicht gelungen, dafür gibt es möglicherweise auch keinen für Außenstehende nachvollziehbaren Grund. Handelt es sich im modernen Sinne um eine Übersprungshandlung? Dafür spricht, dass er bemüht ist, die von ihm eskalierte Situation nicht mehr weiter zu eskalieren, indem er sagt: Das können wir später noch einmal bedenken.
„Doch wahrhaftig, das können wir später noch einmal bedenken…
einer sei Führer, ein Mann aus dem Rat,
Aias oder Idomeneus oder der göttliche Odysseus,
Oder auch du Pelide! Gewaltigster aller Männer!
Daß du uns den Ferntreffer gnädig stimmst und die Opfer errichtest:“
Man könnte es jetzt auf sich beruhen lassen. Darauf vertrauen, dass Agamemmnon mit etwas Distanz auf sein Ehrgeschenk verzichten wird. In Führungsdingen Erfahrene wissen, auch jetzt hat er wieder Fehler gemacht, bei seinem Versuch, die Lage zu retten. Freilich gehört dazu viel Erfahrung im öffentlichen Sprechen in einer so exponierten Rolle wie es die eines Heerkönigs ist. Es sind, im Vergleich zu seinen bisherigen verbalen Fehltritten, eher kleinere Vergehen aber auch diese rächen sich unter Umständen. Wie er schon vorher ohne Not Odysseus oder Aias mit dem Verlust Ihres Ehrgeschenkes bedroht hatte, so hebt er sie jetzt auf den Schild als mögliche Parlamentäre, nicht ohne sie gleich wieder zu demontieren, indem er eigentlich Achilles als Abgesandten zu präferieren scheint.
Dass er ihn nicht sofort als seine erste Wahl zu erkennen gibt, ist sicherlich psychologisch verständlich. Er musste erst einmal die Kurve bekommen, aus seiner ersten Verärgerung herauszutreten, um letztlich die klügste Entscheidung zu treffen, die in diesem Augenblick zu treffen war. Es muss ihm gelingen, Achilles wieder in sein System einzubinden, ihn mit einer herausgehobenen Aufgabe zu versöhnen. Dennoch wird Achilles gespürt haben, dass es sich um eine Entscheidung mit Anlauf gehandelt hat, um eine Vernunftlösung, keine Herzenslösung.
Die jetzt folgende Antwort lässt auf einmal Achilles in einem anderen Licht erscheinen. Es hätte durchaus von seiner Seite die Möglichkeit gegeben, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Wenn er gewollt hätte, hätte er mit überlegener innerer Ruhe über die „Haken“ in Agamemmnons Kommunikation hinwegsehen können. Er hätte ihm seine Ehre lassen können. Es hätte nicht zu einem Gesichtsverlust führen müssen. Wie ja überhaupt Vieles und Wesentliches in hierarchischen Dingen mit der Angst vor Gesichtsverlust zusammenzuhängen scheint. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen.
Doch wer weiß genau, was im Vorfeld schon vorgekommen ist. Es spricht einiges dafür, dass sich Muster in Agamemmnons Handlungs- und Kommunikationsstil herausgebildet haben, dass entweder in strukturähnlichen Situationen Agamemmnon auf „vertagte“ Dinge wieder zurückgekommen ist, dass er sozusagen ein langes Gedächtnis besitzt, wie die Äußerungen des Kalchas nahezulegen scheinen, oder dass die immer gleichen Fehler im Umgang mit kritischen Situationen und mit den involvierten Menschen ein gehöriges Maß an Gereiztheit in seiner Umgebung produziert haben.
Es kann aber auch genauso gut sein, dass es Achilles auf diese Eskalation anlegt, dass er nicht nur eine überlegene Stärke, sondern auch eine überlegene Intelligenz besitzt. Er durchschaut möglicherweise die ständig auf dieselbe Weise „schief laufende“ hierarchische Kommunikation. Schließlich ist Achilles selber ein König. Er kennt solche Situationen. Er weiß möglicherweise, welche Fehler man nicht machen darf und er lässt Agamemmnon „ins offene Messer laufen“, der sich, und das ist offenbar, seiner eigene dysfunktionalen Muster nicht in vollem Umfang bewusst ist.
0, mir! in Unverschämtheit Gehüllter! Auf Vorteil Bedachter!
Wie wird einer willig noch deinen Worten gehorchen von den Achaiern,
Einen Gang zu tun oder gegen Männer mit Kraft zu kämpfen?
Kam ich doch nicht der Troer wegen hierher, der Lanzenstreiter,
um mit ihnen zu kämpfen, denn sie haben mir nichts angetan.
…
Sondern dir, du gewaltig Unverschämter! Folgten wir, daß du dich freutest,
Um Ehre zu gewinnen dem Menelaos und dir, du Hundsäugiger!
Was ist das für ein Königtum, das uns da vor Augen gestellt wird? Zunächst einmal handelt es sich um einen König unter Königen. Jeder der großen Helden, die wir kennenlernen, ist der König seiner eigenen Männer. Deren Bedeutung bemisst sich einerseits an der Größe des Beitrags zum gemein-samen Expeditionskorps und wird in Schiffen bemessen. In diesem Sinne ist Agamemmnon der Führer und König des größten Korps, das der Mykener. Prinzipiell allerdings steht er auf gleicher Stufe wie Odysseus, dem König von Ithaka, Achilles, dem König der Myrmidonen und auch wie Menelaos, dem König von Sparta.
Überhaupt ist mittelbar Menelaos, der Bruder Agamemmnons der äußere Anlass für den Kriegszug der Achaier, wie die Griechen in der Ilias genannt werden. Seine Frau, Helena, wird als Folge einer Vereinbarung zwischen Paris, dem trojanischen Königssohn und drei Göttinnen, von ersterem geraubt und nach Troja verbracht. Der Kriegszug ist eigentlich eine Familienangelegenheit. Agamemmnon willigt ein, seinem Bruder bei der Wiederbeschaffung seiner Ehefrau behilflich zu sein.
Achilles macht im Folgenden noch einmal deutlich, dass ihm eigentlich nach seinem Verdienste größere Ehrgeschenken zu kommen würden, dass aber Agamemmnon immer das größte Ehrgeschenk für sich beansprucht:
Dein ist das weit größere Ehrgeschenk, doch ich mit einem geringen,
Mir lieben, kehre zu den Schiffen, nachdem ich mich mich müde gekämpft.
Nun aber gehe ich nach Phtia, da es wahrhaftig viel besser ist,
Heimzukehren mit den gschweiften Schiffen, und nicht denke ich,
Dir hier ohne Ehre, Besitz und Reichtum aufzuhäufen.
Nun ist es passiert. Achilles kündigt seine Gefolgschaft auf. Er nimmt nicht mehr an den Kampfhandlungen teil. Er will nicht mehr für den materiellen Vorteil des Agamemmnon kämpfen, ohne selbst ehrenhaft behandelt zu werden. Es ist rührend, wie er sich bescheiden mit Wenigem zufrieden zeigt. Sich selbst und seines Verdienstes gewiss. Sicher ist ihm trotz all seiner ostentativen Bescheidenheit das Drohpotenzial seiner Aussage bekannt. Wieder schleicht sich dieser Verdacht ein. Ist das Gefühl des Achilles authentisch oder spielt er nur für die Galerie. Will er das Verhalten des Agamemmnon nur umso ungeheuerlicher erscheinen lassen. Dennoch könnte jetzt Agamemmnon noch einen Ausweg finden Man kann sich bei ambivalenten Aussagen immer für die harmlosere Interpretation entscheiden. Er könnte immer noch einlenken, die Verdienste des Achilles anerkennen und eine ehrenvollen Ausweg suchen.
Doch da kennt man Agamemmnon schlecht. Er gießt noch Öl ins Feuer:
Fahre nur ab, wenn der Mut dich drängt! Ich werde dich nicht bitten,
Um meinetwillen zu bleiben! Bei mir sind noch andere,
Die mich ehren werden und vor allem der ratsinnende Zeus!
der verhaßteste bist du mir unter den zeusgenährten Königen:
Denn immer ist Streit dir lieb und Kriege und Kämpfe!
An dieser Stelle reagiert Agamemmnon wie es auch moderne Vorgesetzte im Angesicht einer Erpressung durch scheinbar unersetzliche Mitarbeiter. Das ist unerhört, das ist Insubordination!…..Kein Hierarch lässt sich ungestraft die eigene Machtlosigkeit vorführen. Dann muss es halt ohne den Erpresser gehen. Egal, was es kostet. Es gibt schließlich noch andere Kämpfer, auf die wenigstens Verlass ist.
…Doch drohe ich dir so:
Da mir fortnimmt die Chryses Tochter Phoibos Apollon,
Werde ich diese mit meinem Schiff und meinen Gefährten
Senden. Doch gehe ich selber und hole Briseis, die schönwangige,
In meine Hütte, dein Ehrengeschenk! Dass du es gut weißt,
Wieviel besser ich bin als du, und dass auch ein anderer sich hüte,
Sich mir gleich zu dünken und gleichzustellen ins Angesicht!
Jetzt hat der Konflikt seinen Höhepunkt erreicht. Höchstpersönlich will Agamemmnon ein Exempel statuieren. Er will den Achilles durch eine Machtdemonstration in die Schranken weisen und seine superiore Stellung „reinstitutionalisieren“.
In dem Moment ist es um die innere Balance des Achilles geschehen. Es gibt kein Mittel mehr, mit dem er sich in diesem Konflikt mit einem Vorgesetzten mit legitimen Mitteln behaupten könnte. War er bis dato doch immer weitgehend Herr des Geschehens und eher Treibender der Handlung als Getriebener, so wird ihm jetzt die eigene Machtlosigkeit vor Augen geführt. In der Logik des hierarchischen Spiels hat er überzogen und wird nun mit den Konsequenzen seines Handels konfrontiert. In der ohmächtigen Wut dieser Erkenntnis greift er zum Schwert.
Der Konflikt ist auf die Spitze getrieben. Die Mitglieder der Heeresversammlung werden den Atem angehalten haben und gewartet haben, was passieren wird. -Bevor jedoch Achilles sich versündigt und für alle Zeiten als Königsmörder brandmarkt, schreitet die Göttin Pallas Athene ein.
Doch auf ! Laß ab vom Streit und ziehe nicht das Schwert mit der Hand!
Aber freilich, mit Worten halte ihm vor was es auch sein.
Denn so sage ich es heraus, und das wird auch vollendet werden:
Sogar dreimal so viele glänzende Gaben werden dir einst werden
Um dieses Übermutes willen.
Und so geht der Konflikt in eine weitere Runde. Zu diesem Zeitpunkt erhebt der greise Nestor seine Stimme in der Versammlung. Er verweist auf sein hohes Alter, auf die Tatsache, dass er mit früheren Heroen zusammen gekämpft habe und dass selbst diese auf sein Wort gehört hätten.
…Mit jenen könnte keiner
Von denen, die heute die Sterblichen sind auf Erden, kämpfen!
Und sie hörten auf meinen Rat und folgten der Rede.
Darum folgt auch ihr, da es besser ist zu folgen
Weder nimm du diesen, so mächtig du bist, die Jungfrau, sondern lass sie,
Wie sie ihm einmal zum Ehrgeschenk gaben die Söhne der Achaier
Noch wolle du, Peleus-Sohn, gegen den König streiten…
Doch auch diese letzte Gelegenheit läßt Agamemmnon ungenutzt verstreichen, wie überhaupt diese ganze Intervention des Nestor trotz wertschätzender Worte des Agamemmnon nahezu wirkungslos verpufft.
Überhaupt. Was hat dieser Einsatz von Nestor für einen Sinn und was hat dieser Nestor für eine Funktion. Aus späteren Kontexten kennen wir den „elder statesman“, den Politiker, der ohne jeden eigenen politischen Ehrgeiz aufgrund seiner Überparteilichkeit und seiner großen Erfahrung mit politischen Dingen Aufmerksamkeit beanspruchen kann und der das Vertrauen seiner Kollegen genießt.
Nestor versucht sich, als ein solcher zu etablieren, indem er auf seine Erfahrung mit Heroen der Vergangenheit verweist. Was er wissen müsste: In solchen Situationen steht immer auch die Aufgabe des Hierarchieschutzes im Raum. Im Umkreis von Agamemmnon sind bisher keine Figuren sichtbar geworden, die diese Rolle übernommen hätten. Es ist ja bekannt, dass man in der Rolle des Führers tunlichst nicht alle Konflikte annimmt und selbst austrägt. Überhaupt scheint Agamemmnon über keine nennenswerte institutionelle Unterstützung in seinem Führungshandeln zu verfügen- oder zumindest nutzt er sie nicht. Der Seher fürchtet ihn und benötigt seinerseits Schutz vor ihm selbst, die profiliertesten Krieger sind desavouiert worden, Funktionsträger, die die hierarchische Kommunikation kanalisieren und diesbezügliche Risiken abfedern, sind nicht zu sehen.
In modernen Führungsteams kommt eine solche informelle Rolle traditionell dem Arbeitsdirektor zu, der durch seinen Auftrag als Mittler zwischen Belegschaft und Management für eine inoffizielle Rolle als Mediator geradezu prädestiniert ist. Beide Seiten, Mitarbeiter wie Chef können sich seiner Neutralität, seiner Allparteilichkeit gewiss sein. Ganz besonders muss sich aber der Chef sicher sein können, dass er nicht sein Gesicht verliert. Doch dafür kommt der Einsatz von Nestor viel zu spät. Er schaut seelenruhig zu, wie sich der Konflikt aufschaukelt und letztlich total eskaliert. Man weiß aus der modernen Kommunikationsforschung dass es einen „idealen Zeitpunkt“ für eine solche moderierende Intervention gibt. In der Prozessdynamik muss sie nach dem Zeitpunkt erfolgen, zu dem beiden streitende Parteien deutlich geworden ist, dass sie auf ein Problem zusteuern. Denn ohne diese (Selbst-)Erkenntnis würden sie nicht auf einen Einwand von außen hören. Die Intervention muss aber auch deutlich vor der zu erwartenden Klimax liegen. Denn was für einen Sinn soll es denn haben, eine Verständigung anzuzielen, wenn alles in Trümmern liegt. Nestor hat kein Gefühl für die Erfordernisse der Situation und die Dynamik eines effektiven Konfliktmanagements erkennen lassen. Nestor hat sich damit nicht als der erfahrene und hilfreiche Ratgeber etabliert sondern eher als eitler Wichtigtuer zu erkennen gegeben. Sein Einwand wird denn auch folgerichtig von Agamemmnon übergangen:
Ja, wirklich dies alles hast du, Alter! Nach Gebühr gesprochen.
Aber der Mann da will überlegen sein allen anderen:
Alle will er beherrschen und über alle gebieten,
Allen Weisungen geben – denen mancher nicht folgen wird, denke ich!
Haben ihn zum Lanzenkämpfer gemacht die immer seienden Götter,
Geben Sie ihm damit das Vorrecht, Schmähungen zu reden?
In dieser Sequenz wird noch einmal deutlich, was man nach dem Verlauf des Konfliktes schon vermuten konnte. Agamemmnon hat den Achilles im Verdacht, an seinem Stuhl zu sägen, die Gesamtverantwortung für das Heer übernehmen zu wollen. Insubordination ist das Thema.
Achilles hingegen kündigt seine Gefolgschaft auf. Er will den Konflikt nicht bis zum bitteren Ende austragen. Und wieder lässt er den Agamemmnon schlecht aussehen, da er den Verdacht des Agamemmnon durch sein Handeln widerlegt. Mit der Aufkündigung seiner Gefolgschaft und dem Rückzug auf sein Schiff strebt er ja gerade nicht nach Umsturz. Wenn auch die eigenmächtige Aufkündigung einer Führungsbeziehung schon eine gewaltige Zerreißprobe für das hierarchische Prinzip per se darstellt. Was, wenn das Beispiel Schule macht? Eigentlich dürfte ihn Agamemnon nicht gehen lassen….
Wirklich! Ja! ein Feiger, ein Garnichts würde ich heißen,
Wenn ich in jeder Sache dir wiche, was du auch sagst.
Anderen trage dies auf. Mir gilt keine Weisung,
Denn nicht mehr werde ich dir gehorchen, denke ich!
Doch etwas anders sage ich dir, du aber lege es dir in deinen Sinn:
Mit Händen werde ich nicht wegen eines Mädchens kämpfen,
Nicht mit dir noch einem anderen, da ihr sie mir nehmt, die ihr sie gegeben.
Von dem anderen aber, was mein ist bei dem schnellen Schiff,
Davon holst du nichts weg und nimmst es gegen meinen Willen!
Wenn aber- auf! versuche es! Damit es auch die hier erkennen:
Schnell wird das schwarze Blut um die Lanze strömen!
Die Frage der Macht
Letztlich haben wir es mit der Machtfrage zu tun. Da ist zunächst einmal die Ideologie der Hierarchie. Wer zum Heerführer ernannt worden ist, hat auch die Macht, seine Anliegen durchzudrücken. Doch der erste Gesang der Ilias ist auch ein Lehrstück über die Grenzen hierarchischer Macht. Das Epos führt eindrücklich vor, wie schnell mit der Akzeptanz des leitenden Personals auch die Macht flöten geht. Sie zeigt wie unter der Oberfläche Machströmungen verlaufen, die sofort an die Oberfläche drängen, wenn das System ins Schwingen gerät.
Wie ist die Macht wirklich verteilt und wer verfügt gegebenenfalls mit wem über geeignetes Gegenmachtpotential? Zusätzlich zu der ihm zuerkannten Befehlsgewalt kann sich Agamemmnon noch auf das größte Kontingent im griechischen Heer verlassen und er kann sich aufgrund seiner Verwandtschaft mit Menelaos auch auf das mit legendärer Tapferkeit ausgestattete Heer der Spartaner stützen. Eine Koalition, die zu einer gewaltigen „Oberflächenvergrößerung“ des Heerkönigs beigetragen haben dürfte.
Welche Macht- oder Einflussformen bei der Entscheidungsfindung innerhalb der Heeressversammlung eine Rolle gespielt haben, können wir nur erahnen. Ganz sicher haben körperliche Stärke, persönliche Verdienste und Größe des Kontingentes eine Rolle gespielt. Sehr wahrscheinlich ist, dass nicht jeder der Teilnehmer dasselbe Gewicht in der Heeresversammlung gehabt haben dürfte.
Gegenmachtpotenzial kommt offensichtlich Achilles zu, der sich nur verweigern muss, um das Heer in seine tiefste Krise zu stürzen. Auch Agamemmnon weiß das und verzichtet trotzdem bewusst darauf, sich erpressen zu lassen. Die beiderseitige Ohnmacht wird deutlich, da Agamemmnon den Achilles zwar machtpolitisch mit Hilfe der Göttin demütigen kann, dabei aber auch den Gesamterfolg riskiert.
Und sich damit als schlechter Führer erweist. Gleichzeitig wird aber auch die Schwäche des Achilles deutlich. Später wird es bei Wilhelm Tell heißen: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ Dessen Ohnmacht zeigt sich schon daran, dass er gezwungen wird, auf seinen Buben mit der Armbrust zu schießen. Die Schwäche des Achilles zeigt sich darin, dass er sein Ehrengeschenk kampflos hergeben muss und dass ihm nur die Verweigerung als letztes „Trotzmittel“ bleibt.
Bedrohlich für das hierarchische Prinzip ist die Unfähigkeit, umfassenden Gehorsam bei Achilles einzufordern. Das ist der zugespitzten Konstellation einer Konfrontation des Mächtigsten mit dem Stärksten zu verdanken. Scheinbar gibt es keinerlei eingeübte Mechanismen, diese Situation, in der die Machtfrage gestellt wird, zugunsten Agamemmnons aufzulösen. Achilles gibt ja nur aus eigenem Ermessen nach. Er müsste das aufgrund der gegebenen Machtsituation nicht.
Hierarchiekritik, Hierarchieschutz und Gewalttabu
Es sollte deutlich geworden sie, dass bei der Darstellung des obigen Konfliktes eine gewichtige Hierarchiekritik angelegt ist. Agamemmnon ist eigentlich schuld an der Eskalation und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits, weil er zum offensichtlich wiederholten Male mit unbedachten Maßnahmen in Konflikt mit den Göttern geraten war und anderseits, weil seine problematische Charakterstruktur zu einer eskalierenden Gesprächsführung führt. In diesen Sinn ist er ein unfähiger Anführer, der eigentlich abgesetzt gehört. Dennoch bleibt sein Verhalten ohne Konsequenz für ihn selber. Es gibt keine Adelsaufstand. Der gewählte Führer wird nicht in einer Wahl wieder abgesetzt. Warum ist das so? Die Antwort liegt im hierarchischen Prinzip begründet. Das Prinzip der Herrschaft über den Menschen durch den Menschen ist in besonderen Maße prekär. Es muss daher, wenn man nicht das gesamte Prinzip in Frage stellen, auf eine besondere Weise geschützt werden. Dafür bieten sich unterschiedlich Varianten an, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.
Jede Form von Königsherrschaft ist darauf angewiesen, dass sie geschützt ist gegen jede Form der Herausforderung durch Untergebene, sei es, dass sie eine Gefahr für Leib und Leben birgt, sei es dass sie im übertragenen Sinne ein Gefahr für die Institution des Königtums an sich darstellt. In der Situation des Konfliktes zwischen Agamemnmon und Achilles gibt es in der dargestellten Situation dieses Tabu noch nicht. Achilles wird nur vom Deus ex machina, der Göttin Pallas Athene davon abgehalten, Agamemmnon zu töten. Der Konflikt ist also in seiner Schärfe dramaturgisch so zugespitzt, dass er eigentlich notwendigerweise zum Tod des einen Protagonisten führen muss.
Es ist die Übergangsphase markiert und symbolisch abgebildet, in der es nicht mehr darum gehen kann, dass der aktuell jeweils stärkste oder brutalste Kämpfer, die Macht an sich reißen kann. Es ist bemerkenswert, dass Achilles dieses Tabu, der ultimativen In-Frage-Stellung des hierarchischen Prinzips nicht zu kennen scheint oder sich nicht daran zu halten gewillt ist.
Gleichzeitig sind wir mit einer Situation konfrontiert, die offensichtlich keinen persönlichen, symbolischen oder ideologischen Monarchieschutz vorsieht. Es gibt keine Leibwache, keine Paladine, keine räumliche Schutzzone, offensichtlich auch keinen symbolischen Abstandhalter und letztlich auch kein valides Gewalttabu in Bezug auf den Monarchen.
Als der Konflikt zwischen Agamemmnon und Achilles an seinem Höhepunkt angelangt ist, meldet sich der greise Nestor zu Wort. Pompös hebt er an, indem er daran erinnert, dass er im Felde gestanden hat mit Helden „weit bedeutender“ als es die Anwesenden waren. Darauf und auf seine lange Erfahrung gründet er den Anspruch, mit dem was er sagt, Gehör und Beachtung zu finden, Doch genauso unerwartet wie er aufgetreten ist, wird er von Agamemmnon wieder „abgebügelt“. Dabei ist das, was er sagt, nicht einmal unvernünftig. Entlang eines solchen Vorschlags könnte sich durchaus eine Lösung des Konfliktes modelliert werden.
Aber er ist schlicht und einfach zu spät dran.
Es geht bei der Mediation eines Konfliktes durchaus nicht nur darum, den richtigen inhaltlichen Impuls zu setzen sondern auch den Zeitpunkt präzise zu erwischen, zu dem eine reibungslose Lösung noch möglich ist. Nestor meldet sich aber letztlich erst dann zu Wort, als die „Milch schon komplett verschüttet ist“. Ist der Konflikt erst bis zum Ausbruch einer gewaltsamen Auseinandersetzung eskaliert, ist es zu spät für eine Ad-Hoc-Mediation. Nestor erweist sich damit im modernen Sinne als inkompetent, in dieser Frage eine wesentliche Rolle zu spielen.
Aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt schöpft Nestor den Vertrauensvorschuss, der ihm aufgrund seines Alters und seiner Erfahrungen zukommt, nicht vollständig aus. In fortgeschrittenen hierarchischen Systemen gibt es ein kollektives Gefühl dafür, den Chef in existenziellen Diskussionen nicht allein zu lassen. Es schwingt immer mit: Die Beschädigung des Chefs ist immer auch die Beschädigung des hierarchischen Prinzips. Es ist daher – nebenbei gesprochen – immer eine kritische Situation, dichotomisch angelegte Konflikte in der Öffentlichkeit auszutragen. Für solche deeskalierenden Funktionen bieten sich gerade Menschen mit großer Lebenserfahrung und ohne eigene persönliche Ambitionen an. Auch in dieser Rolle hätte Nestor intervenieren können – wenn nicht sogar müssen-, um einen dysfunktionalen Konflikt nicht auf die Spitze treiben zu lassen.
Wir halten fest: Es gibt offensichtlich noch kein eingeübtes Verfahren, Hierarchieschutz zu betreiben. Agamemmnon ignoriert denn auch konsequent den Vorschlag von Nestor und eskaliert den Konflikt weiter. Dafür betreibt der Dichter wirksamen Hierarchieschutz. Zwar ist die psychologische Entwicklung des Konfliktes nachvollziehbar gezeichnet. Zwar liegen die Fehler, aus kommunikationstheoretischer Sicht betrachtet, durchaus überwiegend auf Seiten des Agamemmnon. Dennoch beginnt das Epos mit einer völlig anderen Akzentuierung.
Den Grimm singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus,
den verfluchten, der zehntausend Schmerzen über die Achaier
brachte
Und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf
Von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden
Und den Vögeln zum Mahl, und es erfüllte sich des Zeus
Ratschluss-
Von da beginnend, wo sich zuerst im Streit entzweiten
Der Atreus-Sohn, der Herr der Männer, und der göttliche
Achilleus.
Schuld am Verhängnis der Griechen ist also der Grimm des Achilles. Schuld ist nicht die katastrophale Gesprächsführung des Agamemnon, nicht dessen Dünkel, als schuldhafter Verursacher eines womöglich kriegsentscheidenden Debakels. Schuld ist der verfluchte Grimm des Achilles. Das ist an sich schon Hierarchieschutz genug. Die Botschaft ist klar: Es ist der Grimm, der schuld ist… nicht der unfähige Hierarch.
Meines Erachtens ist es nicht ohne Bedeutung, dass dieses Thema einerseits so radikal auf die Spitze getrieben wird und andererseits eben die notwendige Konsequenz, die Ermordung des Königs nicht stattfindet. Offensichtlich hat die rezipierende Adelsgesellschaft die Gewalthemmung gegenüber dem Monarchen schon gekannt und eingehalten, andererseits ist das Prinzip noch nicht so selbstverständlich etabliert, dass es mit einem religiös unterfütterten Gewalttabu belegt ist.
Anm 1: Die Übersetzung folgt hier im Wesentlichen Schadewald 2002, nimmt aber an zwei Stellen, Latacz folgend, Änderungen vor. Anstelle von „Zorn“ ist „Grimm“ gesetzt und das „verderblichen“ wird durch „verfluchten“ ersetzt. (Latacz, S.95f).) Ansonsten wurde bei allen anderen zitierten Stellen im Text ausschließlich auf Schadewald 2002, S. 7 ff. vertraut
Literatur:
Homer: Ilias. Übersetzt von Wolfgang Schadewald. Mit einer Einführung von Joachim Latacz, Düsseldorf/Zürich 2002
Homer: Ilias. Griechisch und deutsch. Übertragen von Hans Rupé. Mit Urtext, Anhang und Registern. 12. verbesserte Auflage. Düsseldorf/Zürich 2004
Homer: Ilias. In der Übersetzung von Johann Heinrich Voß. Projekt Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/buch/ilias-1821/1
Latacz, Joachim: Homer. Der erste Dichter des Abendlandes. 4.überarbeitete und durchgehend aktualisierte Ausgabe, Düsseldorf/Zürich 2003
Patzek, Barbara: Homer und seine Zeit. 2. durchgesehene Auflage, München 2009