Die Katastrophe der „Love Parade“ in Duisburg - und wie sie hätte verhindert werden können

Loveparade in Duisburg – ein Lehrstück über Verantwortung

Am 24.Juli 2010 ereignete sich eines der tragischsten Unglücksfälle der Nachkriegsgeschichte in Deutschland. Im Verlauf der Love Parade, einer Techno- Veranstaltung für hunderttausende von Besuchern auf einem Festgelände der Stadt Duisburg, sind insgesamt 21 junge Menschen unter schrecklichen Umständen zu Tode gekommen. Viele weitere blieben verletzt oder stark traumatisiert zurück.

Am Nachmittag spielten sich an der Rampe, die zum Festgelände führt, fürchterliche Szenen ab. Die nachdrückenden Besucher und die vom Festgelände zurückflutenden Menschenmassen stießen direkt hinter dem zum Festgelände führenden Tunnel aufeinander. Während die meisten Besucher zum Wummern der Techno-Musik noch „abtanzten“, kämpften an anderer Stelle, von den übrigen Besuchern gänzlich unbemerkt, die Menschen um ihr Überleben.

Man kann die bedrückenden Bilder in mehreren eindrücklichen Fernseh-Dokumentationen betrachten. Insbesondere die Szenen an der zur darüber liegenden Straße führenden Treppe sind fürchterlich. Man sieht Besucher, die sich aus dem Menschenknäuel am Fuß der Treppe zu befreien suchen, manche die mit letzter Kraft und der Hilfe anderer dem Inferno gerade noch entkommen können, wieder andere, die hilflos zurückfallen, um dann dort zu ersticken.

Warnende Hinweise im Vorfeld

Es hatte im Vorfeld der Love Parade auch nicht an warnenden Hinweisen gemangelt. Der damalige Polizeipräsident Rolf Cebin war im Vorfeld der Love Parade auch wegen seiner ablehnenden Haltung zur Love Parade vom CDU Kreisverband Duisburg zum Rücktritt aufgefordert worden. Dessen kritische Haltung zur geplanten Techno Veranstaltung führte sogar zu einem Brief eines CDU-Bundestagsangeordneten an den damaligen CDU Innenminister, den Polizeipräsidenten abzulösen (CDU Kreisverband Duisburg, 9.2.2009).

So kann man sich sehr leicht ein Bild von der politischen Situation machen, in der die Love Parade stattfinden sollte. Und es bestätigt immer wieder auch einen Befund, den schon Charles Perrow in den 80er Jahren des 20.Jhd. in seinem bahnbrechenden Buch über „normale Katastrophen“ getroffen hatte. Bei den meisten Katastrophen im technischen Hochrisikobereich wie bei dem Betrieb von Atomkraftwerken und bei Raum- sowie Luftfahrtunglücken hat der Druck, der von außen auf Entscheidungen genommen wird, einen wesentlichen Einfluss auf die sich entfaltende Katastrophe (Perrow, Charles 1992).

Nachdenklich hätte auch machen können, dass die Oberbürgermeisterin von Bochum die für das Jahr 2009 geplante Love Parade abgesagt hatte, da sie die Sicherheit der Veranstaltung
nicht hatte garantieren können.

Nach dem Ereignis wurde rasch deutlich, wie das bei solchen Katastrophen häufig der Fall ist, dass schon im Vorfeld Unstimmigkeiten zu verzeichnen waren, die allerdings nicht nach außen gedrungen waren. Sehr schnell verdichtete sich nach dem Ereignis die Kritik auf den OB Sauerland und seine Stadtverwaltung.

„Indes geraten Sauerland und seine Duisburger Stadtverwaltung wegen ihrer angeblichen Profilierungssucht und ihrer dilettantischen Organisation der Love Parade immer stärker
unter Beschuss. Leitende Beamte im örtlichen Polizeipräsidium beklagen hinter vorgehaltener Hand, von der Rathausspitze sei seit über einem Jahr „permanent politischer Druck“ ausgeübt worden, um das Prestigeprojekt Love Parade „unter allen Umständen“ in der klammen Reviermetropole realisieren zu können.“
http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11855793/63529/OB-Sauerland-soll-die-Veranstaltung-mit-permanentempolitischen.html Zugr. 3.2.2014

Um zu verstehen, warum das politische Interesse am Erfolg der Veranstaltung im Vorfeld so immens war, muss man sich vergegenwärtigen, was für das Ruhrgebiet auf dem Spiel stand.
Das Ruhrgebiet befindet sich seit Jahrzehnten in der gewaltigsten Strukturkrise seiner Geschichte. Die Montanindustrie, die in der Vergangenheit auch der großen Masse der sogenannten kleinen Leute einen bescheidenen Wohlstand verschafft hatte, befindet sich in einem unumkehrbaren Niedergangsprozess. Es ist und war daher für die gesamte Region von existenziellem Interesse, sich „neu zu erfinden“ und sich für Investitionen in neue Wachstumsfelder attraktiv zu machen.

Das Ruhrgebiet wurde als Ganzes unter der Federführung Essens zur Kulturhauptstadt Europas gemacht. Das ist eine jährlich stattfindende Einrichtung der Europäischen Union, die gleichzeitig an zwei europäische Städte verleihen wird. Zuvor waren in den Vorjahren Städte wie Linz, Graz, Liverpool, Brügge u.a. mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas ausgezeichnet worden. Unter dem Oberbegriff RUHR.2010 gab sich die Region folgende Zielsetzung:

„Die Veranstaltungen von RUHR.2010 werden die Metropole Ruhr als Kulturmetropole in Europa verankern. Aufgabe der Kulturhauptstadt ist es, durch Bündelung die Vielfalt und das riesige Angebot, das täglich und seit Jahren die Region bereichert, sichtbar zu machen.“
http://www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de/programm-alt/auf-einen-blick.html Zugr.:3.4.2015

Porträt Sauerland und der Umgang mit der Verantwortung

Zum Gesicht der Katastrophe ist der damalige Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland geworden. Dieser hatte nach einer langen Durststrecke der CDU im Rathaus die langjährige Regierungszeit der SPD gebrochen und war als Oberbürgermeister durchaus in der Bürgerschaft anerkannt. Seine Reaktion auf die Katastrophe der Love Parade hat ihn allerdings für alle Zeiten zum Sinnbild eines bürokratischen und ausschließlich legalistisch operierenden Polit-Apparatschiks werden lassen.

Wohl aus rechtlichen Bedenken aber auch weil er nicht zugeben konnte, etwas in seiner Amtsführung falsch gemacht zu haben, verweigerte er sich allen Aufforderungen, die politische Verantwortung zu übernehmen und zurück zu treten. Er beharrte auf seiner Haltung, erst die staatsanwaltschaftliche Untersuchung abzuwarten, bevor er irgendwelche Konsequenzen ziehen wolle. Erst knapp ein Jahr nach der unglücklichen Love Parade übernahm OB Sauerland die “moralische Verantwortung“. Vorausgegangen war ein unsäglicher Prozess des Hin- und Herschiebens sowie des Abwälzens von Verantwortung, der sich auch nach der Übernahme der moralischen Verantwortung fortsetzen sollte. Noch nicht einmal zur Übernahme der „politischen Verantwortung“ konnte er sich durchringen, denn das hätte seinen freiwilligen Rücktritt mit eingeschlossen. Erst ein formelles Verfahren zur Abwahl des Oberbürgermeisters hatte letztlich Erfolg. Erst am 12.2.2012 wurde Sauerland abgewählt und durch einen SPD-Oberbürgermeister ersetzt.

Das Organisationschaos

Erst im Verlaufe der medialen und juristischen Auseinandersetzung mit den entsetzlichen Geschehnissen traten spezifische Phänomene der Desorganisation in das Blickfeld auch einer breiteren Öffentlichkeit. Letztlich ist es nur ein Symptom für die allgemeine Qualität der Vorbereitung durch die Stadtverwaltung, dass offiziell immer von einer erwarteten Besucherzahl von einer Million gesprochen wurde, obwohl in Wirklichkeit nur 300000 erwartet werden konnten.

„Anfragen nach den Besuchern und dem Fassungsvermögen des Geländes wurden von der Duisburger Verwaltung vor dem Desaster nicht der Wahrheit gemäß beantwortet. Stattdessen wurden nur vage Angaben gemacht. Selbst wenn in den Stadträten fälschlicherweise von über einer Million erwarteter Besucher geredet wurde, korrigierte weder in Duisburg noch in anderen Städten jemand die Aussagen. Die Behörden führten in Kenntnis der Wirklichkeit die Menschen im Interesse der Love Parade-Macher in die Irre. Nach seriösen Schätzungen der Polizei kamen am Samstag rund 300 000 Besucher nach Duisburg. Nur für diese sei eine Versicherungsprämie gezahlt worden.“
http://www.derwesten.de/nachrichten/Teilnehmer-Zahlen-zur-Loveparade-waren-gefaelscht-id3317706.html Zugr.: 4.5.2015

So ist es zunächst einmal unerklärlich, warum die förmliche Genehmigung für die Love Parade erst am Tage vorher durch einen Mitarbeiter des Ordnungsamtes unterzeichnet wurde. Zu einem Zeitpunkt, zu dem man die Love Parade eigentlich nicht mehr absagen konnte. Es sieht im Nachhinein so aus, als ob einige wesentliche Dinge in der Zusammenarbeit mit dem Veranstalter noch nicht geklärt worden waren. Der Prozess wird also, obwohl wesentliche Dinge noch nicht geklärt waren, nicht gestoppt und erzwingt seine eigene Genehmigung aufgrund der ihr innewohnenden Dynamik.

Aber selbst innerhalb der zugeordneten Verantwortungsbereiche scheint die Aufgabe nicht verantwortlich wahrgenommen worden zu sein. Am Tag der Love Parade war kein MA des Ordnungsamtes vor Ort. Das riecht nach Resignation und innerer Distanz. Sollen die doch machen, was sie wollen.

Die vor dem Ereignis durchgeführte Ortsbegehung fand ohne Beteiligung der Polizeiführung statt. Bei dieser Ortsbegehung wurden im Übrigen einige liegen gebliebene Gitter weder beanstandet noch beseitigt. Darüber hinaus ergeben sich noch weitere Fragen: Wer hätte beispielsweise sicherstellen müssen, dass die Lautsprecheranlage für die Polizei auch installiert ist und funktioniert und warum hatten die Polizeibeamten für die Koordination des Sicherheitsdienstes nur Handys? Sind das nun alles Merkmale eines allgemeinen Schlendrians oder lassen sich diese
Symptome mit Hilfe eines konsistenten Erklärungsmodells bündeln und wären so „aus einem Punkte zu erklären“.

Die Bürokratie-Falle

Typischerweise werden in der Literatur zu Katastrophen im politischen Bereich (Kuba Krise) oder im technologischen Hoch-Risiko-Bereich (Challenger Unglück) Fehleinschätzungen der tatsächlichen Gefährdungslage identifiziert, die Group-Think-Phänomene genannt werden. Prägnant formuliert liegt das Problem in der Wirklichkeitswahrnehmung von Entscheidungsteams. In solchen Teams herrscht in der Regel eine unreflektierte Burg- Mentalität vor, die von zu positiver Einschätzung der Erfolgsaussichten und von einer Ausblendung der Risiken gekennzeichnet ist. An dieser Stelle scheint es mir angezeigt zu sein, eine andere, bisher nach meiner Kenntnis noch nicht vorgetragene Deutung der Ereignisse im Zusammenhang mit der Love Parade vorzulegen.

Die hier vertretene These lautet, dass es sich bei der Love Parade Veranstaltung nicht um das kollektive Ausblenden von Gefährdungen zugunsten eines von allen gewünschten Ergebnisses geht, sondern, dass es überhaupt nicht gelungen ist, sich auf eine gemeinsame Wirklichkeitssicht festzulegen.

Wie es scheint, sind drei Parteien im Spiel: Die Verwaltung um den Oberbürgermeister, die Polizei und der Veranstalter, vertreten durch Herrn Schaller. Mittlerweile ist das Vorverfahren abgeschlossen (Januar 2014), es sind einige wenige Menschen angeklagt worden. Zunächst einige subalterne Beamte sowie Mitarbeiter des Veranstalters. Der mit der Verantwortung für den Polizeieinsatz betraute Polizeibeamte ist ebenfalls nicht angeklagt worden.

Insofern kann man mit einiger Ironie im Nachhinein sagen, dass Oberbürgermeister Sauerland doch alles richtig gemacht hat. Mindestens ist ihm kein strafwürdiges Fehlverhalten anzulasten gewesen. Auch der Veranstalter Schaller wurde nicht angeklagt. Dieser sei im Verlauf der Vorbereitungen lediglich durch befremdliche Ideen aufgefallen.

Und die Polizei? Die wurde ja schon im Vorfeld durch den damals neu ins Amt gekommenen Justizminister Jäger von jeder Verantwortung freigesprochen. So kann man dann sagen, dass es neben der moralischen Verantwortung, die Sauerland dann doch viel zu spät übernommen hat, auch eine an der Tag gelegte „unverantwortliche Haltung“ gibt, die man nur mit einer „Wie-bringe-ich-meinen Arsch-an-die-Wand- Mentalität“ beschreiben kann.

Da sind sie dann allesamt im juristischen Sinne unschuldig. Der eine, weil er nichts unterschrieben hat, der zweite, weil er offensichtlich desorientiert war und nichts Relevantes entschieden hat und der Polizeipräsident, dessen Mitarbeiter am Tag des Einsatzes „wie Falschgeld“ herumliefen, weil ihre Spitze in die Planung des Ablaufs nicht eingebunden war.

Die eigentlichen Probleme am Tag des Einsatzes sind vor diesem Hintergrund keinem bedauerlichen Versagen einzelner Verantwortlicher zuzuschreiben, sondern sie sind eine logische Konsequenz eines von vorne herein auf Verantwortungsdiffusion angelegten arbeitsteiligen Systems.

Betrachten wir das Ganze noch einmal aus Sicht des obersten Verwaltungsleiters (OB Sauerland). Er hat sich – ganz im Sinne einer bürokratischen Aufgabenteilung – vollkommen im Einklang mit den Regeln bewegt. Der Hintergrund dieser Dienstauffassung liegt in der üblichen und durchaus in vielen Fällen auch sinnvollen Verantwortungs- und Aufgabenteilung in klassischen Verwaltungen. Hier gilt ganz im Sinne Max Webers die „Präzise Abgrenzung von Autorität und Verantwortung“ sowie die „Aktenmäßigkeit aller Verwaltungsvorgänge.“ (Schreyögg 2003 S.34) In dieser Welt gilt nichts, was nicht in einem Aktenvorgang hinterlegt ist. Nur so ist auch die Aussage von Oberbürgermeister Sauerland zu verstehen: „Ich habe nichts unterschrieben“. Vor diesem Hintergrund kann die Frage, ob er denn nicht einmal verbal im Vorfeld auf das Gefahrenpotenzial aufmerksam gemacht worden sei, nur auf Unverständnis stoßen, denn: „nur das Aktenmäßige gilt, Gerüchte, Klatsch, Tratsch, sind für das Handeln ohne Bedeutung.“ (Schreyögg 2003, S.34). Was hätte Herr Sauerland alles lernen können, wenn er das zur Kenntnis genommen hätte, was nicht in den Akten steht. Die Bedenken seiner Leute, die Sorgen des vormaligen Polizeipräsidenten, die dilettantische Organisation des Veranstalters. Bei sorgfältigem Hinhören und Hinsehen, hätte er sehen können, was er nicht sehen konnte oder wollte. (Anm 1)

Es ist vor diesem Zusammenhang letztlich fast überflüssig zu erwähnen, dass eine solche Haltung der geteilten Verantwortung, des Rückzuges auf Verwaltungs-Richtlinien einen besonderen Menschentypus ausprägt. Das hat schon Max Weber, der – wie sich im folgenden Zitat zeigt – kein Verfechter dieser Art bürokratischen Denkens und Handelns, sondern eher ein scharfsichtiger und kritischer Beobachter der damals eingeleiteten Entwicklung war:

„Dass die Welt nichts weiter als solche Ordnungsmenschen kennt – in dieser Entwicklung sind wir ohnedies begriffen, und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale.“ (Weber 1924, S. 414; zit. bei: Schreyögg 2003, S. 35).

Die Ontologie der Bürokratie

In der Philosophie spricht man üblicherweise von Ontologie, wenn man das aller Erkenntnistheorie zu Grunde liegende Konzept von der Beschaffenheit der Welt meint. Ontologisch ist beispielweise der Glaube an eine ideale Welt jenseits der wahrnehmbaren wie sie beispielsweise der Platonismus in seinen vielfältigen Varianten vertritt. Denkbar ist aber auch der Verzicht auf den Glauben an eine mit unseren sinnlichen Mitteln realistisch erkennbaren Welt. In diesem Falle spricht man von Konstruktivismus, wenn man den Glauben daran bezeichnen möchte, dass es im Wesentlichen die Konstrukte unseres eigenen Wahrnehmungsapparates sind, die die Außenwelt „konstruieren“.

In dem hier dargestellten Zusammenhang gibt es zwei ontologische Konzeptionen, die in einem ontologisch und logisch unversöhnlichen Gegensatz stehen. Da ist zum einen die atomistische Ontologie, die im Wesentlichen den Glauben an den Aufbau einer bis in die Einzelbestandteile reduzierbaren Welt vertritt, ohne durch diese „Reduktion“ „wesentliche“ Zusammenhänge in der Welt durch diese Art der Erkenntnis zu beschädigen. (L. Wittgenstein: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“) Hier wird eine Welt aufgemacht, die – ohne Schaden für den Gesamtzusammenhang – auf untereinander unverbundene „atomistische“ Sachverhalte reduziert werden kann. Im Gegensatz dazu existiert das ontologische Konzept des systemischen Zusammenhanges, dass also „Alles mit Allem“ in irgendeiner Weise „zusammen hängen“ könnte.

In der Organisationssoziologie liegen diesen beiden ontologischen Grundkonzeptionen unterschiedliche Lösungskonzepte für organisatorische Probleme zu Grunde. Da ist zum einen der Glaube an die Zerlegbarkeit der Wirklichkeit von organisatorischen Gebilden in unabhängige, voneinander isolierbare Pakete. Modern gesprochen ist das der Glaube an die
Modularität der Welt und – im selben Atemzuge – der Glaube an die Möglichkeit der Modularisierung derselben. Das ist das Modell der Bürokratie. (Willke 1995, S.71) Die
Wirklichkeit wird in einzelnen Scheiben, in Modulen erfasst. Das Ordnungsamt regelt die öffentliche Ordnung, das Finanzamt kümmert sich um die Thematiken mit der Vielzahl der
Steuern. Geburten, Eheschließungen, Scheidungen und Todesfälle bearbeitet das Standesamt usw. Soweit so gut – und das funktioniert ja auch in einer Vielzahl von Fällen.
Doch wehe, wenn sich die Wirklichkeit da draußen nicht an die vorgegebene Arbeitsteilung hält. Wenn die Probleme nach übergreifenden Lösungen rufen. Da ist man sehr schnell an
Kafkas Prozess erinnert. Jeder der schon einmal auf einem Amt ein Anliegen vorgetragen hat, das außerhalb der gewöhnlichen und gewohnten Abläufe liegt, kann ein Lied davon
singen. „Dafür sind wir nicht zuständig, da müssen Sie dorthin“, solange bis man dann wieder bei der Stelle anlangt, bei der man angefangen hat…

Dieses soeben beschriebene Phänomen ist eine Folge „horizontaler Arbeitsteilung“. Die Bürokratie zerlegt die Wirklichkeit in Tranchen. Das ist ihre Stärke, da sie eine komplexitätsreduzierende Abarbeitungsform ist. Sie kommt aber „ins Schleudern“, wenn sich beispielweise – wie oben angedeutet – die Bedürfnisse der Realität nicht an den vorgegebenen Arbeitsteilungen orientiert. Das hat die Bürokratie mit den Wirtschaftsunternehmen gemeinsam. Was ist zu tun, wenn der notwendig gewordene Veränderungsprozess sowohl den Finanzbereich wie auch den Organisationsbereich sowie den Personalbereich und die Produktion umfasst?

Dieses soeben beschriebene Phänomen ist keineswegs auf klassische Bürokratien beschränkt. Eine Vielzahl der Veränderungsprozesse in Unternehmen scheitert beispielsweise an der organisationalen Unfähigkeit, die jeweiligen Partikularinteressen des Finanzbereichs wie auch des Personal- und Organisationsbereichs sowie die Bedürfnisse der Produktion zu berücksichtigen. Es gilt also, Arbeitsformen zu entwickeln, die die unterschiedlichen Weltsichten, Problemlösungsansätze und Partikularinteressen der beteiligten „Mitspieler“ zu einem gelungenen Ganzen fusionieren.

Im ersten dargestellten Fall ist es ist ein wenig wie bei einem Tortendiagramm. Man kann es auseinanderziehen und die Farben verändern, es wieder zusammenzufügen, ohne dass sich am Gesamten substanziell etwas verändert. Tatsächlich aber ist das Bild des Backens einer Torte im zweiten dargestellten Fall deutlich adäquater. Aus unterschiedlichen Bestandteilen entsteht etwas Neues. In anderen Worten: Es handelt sich um eine Wirklichkeitssicht, die für komplexe Systeme erheblich adäquater ist.

Diffusion of Responsibility

Von „Diffusion of Responsibility“ spricht man, wenn es unklar ist, wer im Bedarfsfall „den Hut aufhat“ oder wenn ein Gesamtverantwortlicher für den Prozess – ein sogenannter Prozessowner – nicht feststeht. Dann fallen die Entscheidungs-notwendigkeiten quasi in der Mitte durch oder bleiben unerledigt liegen. Schnittstellen werden im Misserfolgsfall dann zu Schützengräben.

„So gab der Veranstalter am Abend des 26. Juli 2010 bekannt: „Die Einsatzleitung der Polizei hat die Anweisung gegeben, alle Schleusen vor dem westlichen Tunneleingang an der Düsseldorfer Straße zu öffnen.“ Durch diese Polizeianweisung sei der Hauptstrom der Besucher unkontrolliert in den Tunnel geströmt. Warum die Polizei diese Anweisung gegeben habe, wisse er nicht.“ (WDR.de, 26. Juli 2010)

Im Verlaufe einer Pressekonferenz des Innenministeriums am 28.7. 2010 machten der Inspekteur der Polizei sowie der neu ernannte Innenminister Jäger den Veranstalter verantwortlich.

„Das Gelände sei zu spät geöffnet worden und der Zufluss der Besucher nur ungenügend geregelt gewesen. Am oberen Bereich der Rampe hätte sich ein Rückstau der Besucher ergeben, wovor die Polizei schon im Vorfeld gewarnt hätte. Nachdem um 15:30 Uhr die Polizei zur Hilfe gerufen wurde, sei das vorher vereinbarte Sicherheitskonzept von Seiten des Veranstalters nicht eingehalten worden, sein Ordnersystem sei zusammengebrochen.“(derwesten.de Kreienbrink, 28.7.2010)

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sich über diese unfreiwillige Demonstration schiefgegangener Kommunikation freuen. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen zeigen nur, dass es dort, wo frühzeitige Absprache, ständige Kontrolle und übergreifende Koordination dringend notwendig gewesen wären, keine gab. Und zwar deshalb, weil sich keine der beteiligten drei Parteien für diese Koordination zuständig fühlte und weil es unkoordiniert an den Schnittstellen zwischen den Verantwortungsbereichen gewissermaßen zwangsläufig zu Problemen kommen musste. Es ist daher kein Zufall sondern der Logik der Situation geschuldet, wenn es am Verantwortungsübergang vom Veranstalter zur Polizei zur Katastrophe gekommen ist.

Es gibt eine alte Weisheit, die sich auch in diesem Fall wieder anwenden lässt. „Das Ende ist dort, wo der Anfang war.“

Nachlaufende Verantwortung

Wir haben bisher im Verlauf der Schilderung gelernt, dass es mindestens drei Arten der Verantwortung geben kann, die moralische, die politische und die juristische. Es handelt sich bei dieser wundersamen Vermehrung von Typen von Verantwortlichkeiten um einen semantischen Ausdifferenzierungsprozess, der doch nur verhindern soll, dass Konsequenzen gezogen werden müssen. Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass mit diesen Verantwortlichkeiten auch unterschiedliche Konsequenzen verbunden sind.

Die moralische Verantwortung hat mindestens im Verständnis von Sauerland und seinen Beratern keine direkten politischen oder sogar juristischen Konsequenzen. Eigentlich handelt es sich bei dieser Variante nur um ein konsequenzenloses Lippenbekenntnis, um nicht noch mehr öffentliche Kritik auf sich zu ziehen.

Die politische Verantwortung hätte wohl bedeutet, sein Amt niederzulegen. (Hier scheint es auch ein rechtliche Problematik gegeben zu haben, dass nämlich Sauerland bei einem freiwilligen Verzicht sämtliche aufgelaufenen Pensionsansprüche auch aus früheren Tätigkeiten verloren hätte. Eine Besonderheit des dortigen Beamtenrechts).

Die juristische Verantwortung gliedert sich dann in eine strafrechtlich relevanten Teil und eine zivilrechtlichen Teil. Kurz: Wer wird für sein (Fehl-) verhalten bestraft und wer kommt für zu erwartende Schadensersatzforderungen auf. Hier kann aus naheliegenden Erwägungen keine freiwillige Übernahme erwartet werden.

Bei allen drei Typen von Verantwortungen handelt es sich um Verantwortlichkeiten nach dem Ereignis (post factum), d.h. wenn die Katastrophe eingetreten ist. Wer übernimmt den „schwarzen Peter“, wenn etwas schief gegangen ist und wer wird letzten Endes von der Justiz – aber auch von der Öffentlichkeit – zur Verantwortung gezogen oder kann sich dieser „Verantwortlichbarmachung“ geschickt entziehen.

Es sei hier nur am Rande erwähnt dass es sich bei der Redewendung, „die Verantwortung übernehmen“, um einen trügerischen Euphemismus handelt. Das Problem „liegt in dem Wort „übernehmen“. Dieses legt nahe, dass da jemand gnädig und selbstlos etwas auf sich nimmt, was er doch qua Amt von allem Anfang sowieso getragen hat.“ (FAZ, tifr. 1. 9. 2012, S.2).

„Für einige Mitarbeiter der Stadtverwaltung wird es dagegen zum Verhängnis, dass sie ähnliche Sorgen vorher schriftlich artikuliert haben. „Ich lehne aufgrund dieser Problemstellung eine Zuständigkeit und Verantwortung ab“, hat etwa Baudezernent Jürgen Dressler vor dem Ereignis auf einer Unterlage handschriftlich festgehalten, daraus leiten die Staatsanwälte jetzt eine direkte Verantwortung Dresslers ab. Denn trotz dieser Warnung hatte er offenbar nicht den Mut, seine kritische Haltung vorher offen zu legen und sich damit dem Wunsch und Willen des Oberbürgermeisters zu widersetzen – am Ende hat eine Mitarbeiterin Dresslers die Genehmigung erteilt; auch sie soll sich demnächst vor Gericht verantworten.“ (TAZ, 11.2.2014)

Das Verhalten der Staatsanwaltschaft wird dagegen von der TAZ unter Berufung auf Menschen, die es wissen müssen, folgendermaßen eingeschätzt:

„Die haben sich an die gehalten, die am Ende ihre Unterschrift gegeben oder nicht heftig genug opponiert haben“, erläutert dazu einer, der die Akten kennt und darauf achten musste, dass sich die Justiz bei der Aufarbeitung der Katastrophe nicht ähnlich blamiert wie die Revierstadt.“ (TAZ, 11.2.2014)

Vorgängige Verantwortung

Es gibt also auch eine spezifische Verantwortung, die schon vor (ante factum) der Katastrophe existiert. Die Frage muss also lauten: Wer hatte im vorliegenden Fall von Anfang an die Verantwortung? Oder, falls das nicht von Anfang an offensichtlich war: Wer hätte zu Beginn die Gesamtverantwortung übernehmen müssen?

Wir wollen diese Form der Verantwortung Management-Verantwortung nennen. Es handelt sich um eine Art Gesamt-Verantwortung. Dadurch dass ich ein militärisches Kommando oder eine öffentliche Aufgabe oder eine Management-Funktion übernehme, bin ich auch für die mir anvertrauten Menschen verantwortlich. Ich habe mein Bestes zu tun. Diese Beste besteht nicht nur darin, dass ich mir die nach den Buchstaben des Gesetzes zukommende Pflicht erfülle, sondern dass das Best-Mögliche getan wird.

Unter dem Blickpunkt des Gesamten muss – wie schon ausgeführt- zunächst eine Entscheidung getroffen werden, die damit zusammenhängt, wie die Entscheider die Wirklichkeit wahrnehmen. Oder anders ausgedrückt: Welche Sichtweise auf die Wirklichkeit ist hier am adäquatesten? Handelt es sich um ein Problem, das sich in der vorliegenden arbeitsteiligen Welt zufriedenstellend abarbeiten lässt oder handelt es sich vielmehr um eine Herausforderung, die nur durch eine struktur- und schnittstellenübergreifende Steuerung der Kooperationen hinzubekommen ist.

Im vorliegenden Fall musste man also, um das Problem adäquat zu erfassen, einen größeren gedanklichen Kreis ziehen. Man hätte sehr früh erkennen müssen, dass das Ganze in diesem Falle etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Das Gelingen eines solchen Prozesses ist abhängig vom Zusammenspiel, vom Verschmelzen der Teile zu einem verzahnten oder idealerweise sogar „fusionierten“ Ganzen.

Wer hätte das sein können?

In Falle der Love Parade gibt es einen privatwirtschaftlichen Unternehmer, der mit seinem geplanten Event Geld verdienen will und letztlich- hat man sich einmal darauf eingelassen –
auch muss, wenn er keine Verluste erleiden will. Auf der anderen Seite sind da der Oberbürgermeister und der Polizeipräsident. Beide sind qua Funktion für die Herstellung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit verantwortlich. Insofern hätte ein Engagement in Richtung Gesamtverantwortung beiden gut zugestanden. Insbesondere dann, wenn deutlich wird, dass der Oberbürgermeister seiner Gesamtverantwortlichkeit nicht gewachsen ist oder ihr aus anderen Gründen nicht nachkommt, hätte der Leiter der Polizei sicherstellen müssen, dass die geplante Vorgehensweise auch den notwendigen Sicherheitsstandards entspricht. Worum es geht, ist: Man kann sich nicht wider besseren Wissens oder mangels eigenen Verantwortungsgefühls unter Berufung auf die eigene Nichtzuständigkeit aus der Verantwortung ziehen. Auch wenn der verantwortliche Beamte zehnmal glaubt, von Rechts wegen nicht zuständig zu sein. Man kann von einem obersten Polizeibeamten, der keine eigenen wirtschaftlichen Interessen in der vorliegenden Angelegenheit hat, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet ist – und dafür letztlich auch bezahlt wird – sehr wohl verlangen, dass er ein größeres Verantwortungsgefühl und eine größere Einsatzbereitschaft an den Tag legt als ein Unternehmer.

Einer hätte im Vorfeld in jedem Falle die Verantwortung übernehmen müssen. Das ist selbstverständlich der Oberbürgermeister der Stadt in seiner doppelten Funktion als oberster Repräsentant der Bürgerschaft als auch in seiner Funktion als Leiter der genehmigenden Behörde. Die Essener Oberbürgermeisterin, die ein Jahr zuvor die Love Parade in ihrer Stadt absagte, weil sie für die Sicherheit der Besucher nicht garantieren konnte, ist dafür ein gutes standardsetzendes Beispiel.

Schlussfolgerungen

„Der Tunnelbereich ist ein ganz sensibler Punkt. Mir war schnell klar, dass da was passieren wird.“ (Dirk Oberhagemann (FAZ/net))

Eine Massenveranstaltung in der Größe der Love Parade lässt sich am besten in seinen Abläufen und Gefährdungssituationen versehen, wenn man die Besucherströme tatsächlich auch als Ströme versteht. Tatsächlich verhalten sich solche Massen unter bestimmten Umständen wie zäh fließende Flüssigkeiten, und dort wo Menschenströme aufeinander prallen, kann es zu höchst gefährlichen „Verwirbelungssituationen“ kommen. Es ist von daher eigentlich klar, dass man bei großem Besucherandrang Möglichkeiten zu schaffen hat, die zu erwartenden Spannungen auch aufzulösen, indem man den Menschen die Möglichkeit verschafft, die gefährlich werdende Situation ohne weitere Hindernisse zu verlassen. Mindestens muss man es schaffen, dort, wo das nicht möglich ist, die Menschenströme weiträumig aneinander vorbei zu führen. Dort, wo das alles nicht möglich ist, ist die größte Unfallgefahr zu erwarten. Und das war der Fall an der Rampe am Ausgang des Tunnels. So urteilt der Katastrophenforscher Dirk Oberhagemann in einem Beitrag von FAZ/net folgendermaßen:

Ein Tunnel als einzigen Zugang für so einen Massenandrang sei „zweifelsohne absolut ungeeignet.“ Eine solch große Veranstaltung dürfe man nur mit einem Einbahnstraßensystem zulassen. Zu- und Abgang müssten auf jeden Fall voneinander getrennt werden. „Ein Eingang und ein separater Ausgang – so und nicht anders.“ (FAZ.net 11.11.2013)

Koordination des Gesamtevents

Wie hätte die Verantwortung für die übergreifende Koordination aussehen können? Wie schon dargelegt wurde, bedurfte es schon gleich zu Anfang der Erkenntnis, dass sich dieses Event in der geplanten Form einer routinemäßigen Bearbeitung in arbeitsteiligen Strukturen widersetzt. Es galt also, einen größeren gedanklichen Kreis zu ziehen und die Verantwortung als Prozess-Owner zu übernehmen.

Das beinhaltet zunächst die Übernahme der Moderation des Entscheidungsprozesses unter Berücksichtigung der offensichtlichen Schwachpunkte des vorliegenden Konzeptes .Im Zweifel hätte schon hier die Reißleine gezogen werden müssen. Oder aber: Es hätte ein besseres Konzept zu Lenkung der Besucherströme beschlossen werden müssen.

Doch auch im Falle eines wie auch immer gearteten Beschlusses hört die Verantwortung für eine übergreifende Steuerung des Geschehens nicht auf: Es hätte im Vorfeld ein kommunikatives Probehandeln – eine Simulation des Geschehens – zwingend stattfinden müssen. Beim Durchspielen von Eventualitäten in einem gemeinsamen Raum hätte man sich aufeinander einspielen können. Im Zuge dieser Simulation hätten die Konzepte und Rollen von privatem Sicherheitsdienst und der Polizei aufeinander bezogen werden können. Im Zweifel hätte man das Kompensationsprinzip in Betracht ziehen können. „Wenn das bei Euch aus bestimmten Gründen nicht funktioniert, übernehmen wir das.“

Im Zuge dieser ersten Abstimmung hätte man dann die Gesamtkommunikation verabreden müssen. Wie treten wir überhaupt miteinander in Verbindung. Funktionieren die geplanten technischen Kommunikationsmittel auch im Ernstfall?

Welche Alternativen haben wir, wenn die geplante Kommunikationsform zusammenbricht? Rechtzeitig vor Beginn der Veranstaltung hätte dann noch eine Ortsbegehung unter Einbezug aller beteiligten Bereiche inklusive deren hierarchischer Leiter stattfinden müssen.

Diese ganzen aufgeführten Maßnahmen haben ein großes Gesamtziel. Im Verlaufe dieses spiraligen Prozesses vom Allgemeinen zum besonderen entsteht ein gemeinsames inneres Bild für alle Beteiligten. Am Ende dieses Prozesses wissen alle Involvierten um ihren Anteil am Gesamtprozess, kennen ihre Rollen und wissen, was im Ernstfall zu tun ist.

Kehren wir noch einmal zur „rechtlichen Aufarbeitung“ zurück: Auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bewegen sich innerhalb der arbeitsteiligen Logik. Die Begründung ist
folgendermaßen: Die Veranstaltung hätte nicht genehmigt werden dürfen, da das Sicherheitskonzept des Veranstalters ungenügend war.

„Die Erteilung der Genehmigung der Love Parade, bei der am 24. Juli 2010 in Duisburg 21 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt wurden, erfolgte laut einem Bericht der Staatsanwaltschaft rechtswidrig. Das bestätigte am Montag (11.07.11) auch der zuständige Duisburger Oberstaatsanwalt Rolf Haferkamp. Der 450 Seiten starke Bericht der Ermittlungsbehörde, der bereits vom 17. Januar stammt, war bisher unter Verschluss gehalten worden. Die Staatsanwaltschaft kommt darin zu der Erkenntnis, dass die Mitarbeiter der Stadt unter anderem ein mangelhaftes Sicherheitskonzept des Veranstalters unkritisch übernommen haben.“
http://www.wdr.de/themen/panorama/loveparade_2010/aktuell/110711.jhtml. Zugr.:5.5.2015

Die Ermittlung der Staatsanwaltschaft greift unter organisationalen Gesichtspunkten zu kurz, wenn sie sagt, die Veranstaltung hätte nicht genehmigt werden dürfen. Die Toten sind aber nicht dem fehlenden Sicherheitskonzept des Veranstalters zu „verdanken“, sondern einerseits der völlig verfehlten Konzeption der Besucherströme und andererseits der mangelnden Koordination der drei beteiligten Parteien. Die Gründe liegen also wesentlich tiefer. Es ist von Anfang an versäumt worden, mit allen Beteiligten eine abgestimmte, abgewogene und gemeinsam getragene Risikoabschätzung vorzunehmen und die entsprechenden Konsequenzen bei der Planung und der Koordination der Maßnahmen vorzunehmen. Weder der Oberbürgermeister, noch der Veranstalter Schaller, noch der zuständige Leiter der Polizeikräfte sind dafür zur Verantwortung gezogen worden, dass sie alle drei es nicht für notwendig befunden haben, im Interesse der körperlichen Unversehrtheit der Besucher zu einem abgewogenen und abgestimmten Sicherheitskonzept zu finden. Die Verantwortung auf subalterne Beamte abzuladen, verkennt die Dynamiken in hierarchischen Strukturen, zumal wenn es einen erklärten politischen Willen gibt.

Es ist sehr zu bedauern, dass es, anders als in den USA, nicht zu wissenschaftlichen Aufarbeitung des Geschehens gekommen ist. Dann wären die 21 Menschen in Duisburg wenigstens nicht ganz umsonst gestorben. Eine mögliche Konsequenz aus einem solchen wissenschaftlichen Diskurs könnte es sein, dass man hierarchische Verantwortlichkeit neu definiert und Standards für die Steuerung komplexer Veranstaltungen festlegt. Die Botschaft jedenfalls, dass man sich als hierarchisch Verantwortlicher nur weitgehend aus der Organisation heraushalten muss, um ungeschoren davon zu kommen, ist im wahrsten Sinne des Wortes fatal.

 


 

Anmerkungen

Anmerkung 1: Es spricht einiges dafür, dass auch Ex-Verteidigungsminister de Maziere den Verlust seines Postens seiner Unfähigkeit oder Unwilligkeit verdankt, die „Zeichen an der Wand“ zu lesen. Diese bornierte Haltung der Bürokraten übersieht dabei, dass es so etwas wie eine Semiotik der Krise gibt. Semiotik ist ja bekanntlich die Lehre von den Zeichensystemen. So
besitzt jede soziale Situation insbesondere jede Art von Krise eine eigene Zeichenhaftigkeit, die entschlüsselt werden kann, ähnlich der Diagnostik in der Medizin, wo sich der Arzt bei seiner Diagnose an Symptomen, mit anderen Worten, an Zeichen orientiert. (Wer sich ein eindrückliches Bild von dieser medizinischen Kunst machen will, sollte sich einmal unter diesem Gesichtspunkt die Fernsehserie Dr. House anschauen.)

Anmerkung 2: Bei diesem wie auch bei anderen Geschehen gibt es ein Handlungsmuster der voreiligen Entlastung der Polizei zu verzeichnen, entweder durch die jeweiligen Dienstherren oder aber durch eine der Polizeigewerkschaften!!!

Anmerkung 3: Möglicherweise ist es nicht zu weit gegriffen, in dieser Rechtslage und seiner Auslegung durch die Staatsanwaltschaft den alten Reflex des Hierarchieschutzes zu erblicken: Im Wissen um die Prekarität des Prinzips der Herrschaft des Menschen über den Menschen haben sich Mechanismen des Hierarchieschutzes etabliert, die auch im Volksmund ihren Niederschlag finden: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.

Literaturverzeichnis

Perrow, Charles: Normale Katarstrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Frankfurt am Main/ New York, 2.Aufl. 1992

Schreyögg, Georg: Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung. 4. vollst. überarbeitete und erweiterte Aufl. Wiesbaden 2003

Willke, Helmut, Systemtheorie III. Steuerungstheorie. 3.Aufl. Stuttgart, Jena 1995

Internet-Quellen

http://www.cdu-duisburg.de/index.jsp?index=presse&mid=20&content=ja&id=147 Zugr.:5.5.2015

http://www.tagesspiegel.de/politik/loveparade-unglueck-von-duisburg-anklagebuergermeister-und-organisatoren-bleiben-verschont/9465932.html Zugr.: 5.5.2015

http://www1.wdr.de/themen/panorama/unfall07/loveparade/100726b.jhtml Zugr.: 5.5.2015

http://www.derwesten.de/unresolved/polizei-belastet-veranstalter-schwerid3296491.html Zugr.: 5.5.2015

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ende-der-loveparade/loveparade-schaller-unddie-schuldfrage-11007998.html Zugr.. 5.5.2015

http://www.wdr.de/themen/panorama/loveparade_2010/aktuell/110711.jhtml Zugr.: 5.5.2015

Wesentliche Anregungen zur Rekonstruktion des Geschehens verdankt diese Studie der ausgezeichneten Zusammenstellung der Ereignisse auf Wikipedia