Cognitive Capture – wie Industrie- und Finanzkonzerne es schaffen, so zu bleiben wie sie waren…

Prolog

Im Rahmen meiner Beschäftigung mit grundsätzlichen ökonomischen Fragestellungen und  den daraus abgeleiteten Themen modernen Managements stellt sich in jüngster Zeit zunehmend die Frage: Leben wir eigentlich in der besten aller denkbaren ökonomischen Welten oder handelt es sich bei einigen aktuellen Erscheinungen eher um endzeitliche Phänomene.   

In diesem Zusammenhang ist es natürlich auch von Interesse, wie sich der gegenwärtige Zustand der Weltökonomie herausgebildet hat, mit welchen Mechanismen er aufrecht- erhalten wird und ob es nicht auch bedenkenswerte Alternativen gibt. 

Zu den Determinanten des aktuellen Zustands gehört neben vielen anderen die spezifische Form des angelsächsischen Finanzkapitalismus, der sich aus mehreren Quellen speist. Historische begründet ist u.a. die spezifische Form des  modernen Kapitalmarktes, der sich bei der Finanzierung des Eisenbahnbaus in den USA in seiner konkreten Gestalt herausgebildet hat. Dazu gehören aber auch „ideologisch-wissenschaftliche“ Weichenstellungen wie der sogenannte „Neoliberalismus“ und der „Shareholder Value Ansatz“.

Genauso spannend wie die Frage nach dem Zustandekommen des heutigen Zustandes ist allerdings auch die Frage, wie der heutige Zustand aufrecht erhalten und stabilisiert wird. Neben dem gar nicht zu überschätzenden Einfluss der amerikanischen (Geld-)Politik auf die Weltökonomie (z.B. Dollar als Leitwährung) ist an dieser Stelle auch die Globalisierung zu nennen. Diese verschafft international operierenden Konzernen die Möglichkeit, sich den nationalstaatlichen Regelungen zu entziehen , indem sie ihre Aktivitäten  dorthin zu verlagern, wo sie mit geringeren Einschränkungen zu rechnen haben.

Wesentlich sind in diesem Zusammenhang auch Diffundierungsphänomene kognitiver und kultureller Art. Mit den Personen und deren beruflichen Einsatzfeldern verbreiten sich auch Vorlieben für bestimmte Wertsysteme, Philosophien, Handlungskonzepte  und Vorgehens-weisen. Von besonderer Bedeutung ist an dieser Stelle das „Revolving Door Phenomenon“ das es insbesondere den Einzelpersonen im amerikanischen Raum erlaubt, von der Wissenschaft in die Politik, von dort in die Wirtschaft und weiter zu supranationalen Organisationen zu wechseln. Überall nehmen sie die jeweiligen vorherrschenden Orientierungen und Handlungsbegründungen mit und verbreiten sie auf diese Art und Weise.  Diese Erscheinung wird in der Wissenschaft mit „Cognitive Capture“ bezeichnet.      

                                            Was bedeutet „Cognitive Capture“?

Am einfachsten versteht man den Begriff, indem man ihn auf die grundlegende Theorie des Ökonomie-Nobelpreisträgers Stigler zurückgeht. Dieser spricht von „regulatory capture“ wenn eine  Regierungsbehörde ihren Regulierungsauftrag gewissermaßen parteiisch wahr-nimmt, also das öffentliche Interesse nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Sie wurde dann von der jeweiligen zu kontrollierenden Industrie „ge-captured“.

Das einstweilen jüngste Beispiel für dieses Phänomen ist das Verhalten der amerikanischen Flugaufsichtsbehörde im Falle des Boeing Skandals um die Boeing 737 MAX B, die nicht zuletzt auch wegen der Untätigkeit der Aufsichtsbehörden zu zwei Flugzeugabstürzen mit hunderten von Toten geführt hat (DW 2019).

Die Gründe für ein parteiisches Verhalten im Sinne eines „Capturing“ können vielfältiger Natur sein. Im nordamerikanischen Umfeld wäre gewiss die Aussicht, zukünftig in der regulierten Industrie zu arbeiten ein Anreiz zu Wohlverhalten. Wir kennen aus den USA das Prinzip der „Revolving Doors“, wo es gang und gäbe ist, von einer Aufsichtsfunktion in einer Regierungsbehörde zu einem Arbeitgeber zu wechseln, den man bis dato beaufsichtigt hatte.   

Amerikanische Finanzunternehmen, darunter ganz besonders Goldman Sachs haben das Prinzip der „Revolving Doors“ zur „Kunstform“ erhoben. Das bis dato weitreichendste Beispiel  war Henry Paulson, der nach langjähriger Tätigkeit als CEO von Goldman Sachs auf den Posten des  amerikanischen Finanzministers (2006-2009) wechselte und in dieser Funktion, beim Zusammenbruch des ehemaligen Konkurrenten „Lehman Brothers“ eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Die Liste der ehemaligen Goldmänner in der Politik ist so lang, dass man auch schon von mal von “Government Sachs“ spricht.  Man erwartet sich natürlich von Seiten des Investmenthauses eine insgesamt finanzfreundliche Politik des ausgeschiedenen Mitarbeiters.

Auch in Europa gibt es zahlreiche Beispiele für diese Politik. Mario Draghi beispielsweise, der bisherige Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) war von 2002 bis 2005 Vice President bei Goldman Sachs International.

Ein weiteres Beispiel ist der Skandal in den USA um das Opioid Oxycontin, welches  insbesondere von einem Unternehmen (Purdue Pharma) der Familie Sackler mit unseriösen Methoden in den Markt gedrückt wurde und zu einer desaströsen Drogensituation mit aktuell mehr als 400000 Toten in den Vereinigten Staaten beigetragen hat.  Auch hier hat die amerikanische Drogenaufsichtsbehörde (DEA) viel zu lange zugeschaut. Auch hier waren an entscheidenden Stellen (Amts-)Personen beschäftigt, die später ihre Karrieren in der Pharmaindustrie fortgesetzt haben (Zöttl 2019).  

Deutlich anders die Situation in Europa, aber mit ähnlichen Ergebnissen:    

 „European regulatory bodies have instead been characterized by career silos with bureaucrats spending most of their career in the state sector under various restrictions discouraging the transition (Pagliari S. 14)“. 

Für die Situation in der deutschen Automobilindustrie im Zusammenhang mit der „Dieselaffäre“ ist das (Wohl-)Verhalten des Kraftfahrtbundesamtes gegenüber der zu kontrollierenden Industrie ein irritierendes Beispiel: Hier werden wohl eher politischer Druck oder ein identischer Mindset von Automobilingenieuren eine Rolle gespielt haben. Und damit sind wir wieder beim Phänomen des „Cognitive Capture“.

Spielten bei der ursprünglichen Theorie des „Regulatory Capture“ noch überwiegend materielle Gründe eine Rolle (tatsächlich war Personalknappheit bei der Auslagerung von Kontrollaufgaben ein Faktor), so spielen in heutigen Theorieansätzen eher kognitive oder kulturelle „Vereinnahmungen“ eine Rolle.

                                        Cognitive and Cultural Capture

„From a similar perspective, different scholars have argued that the major impact of the revolving doors phenomenon and the repeated interaction between regulators and regulated firms as described above is not the conflict of interests which may result, but rather the nurturing of a kind of ‘consanguinity’(…) in the policymaking process, supporting a process of intellectual convergence between like-minded individuals across the public and private sector, socialization, and, ultimately, “intellectual capture”.(…)“

Im Zitat wird noch einmal das Phänomen des „capturing“ beleuchtet. Es kommt zwischen den Aufsichtsbehörden und der zu regulierenden Industrie eben genau nicht zu Interessenskonflikten sondern eher zu einer kognitiven und kulturellen Annäherung der jeweiligen Haltungen. Taucht man in eine Ingenieurskultur ein, werden wesentliche Werturteile übernommen. Den Sichtweisen und den Handlungszwängen der zu kontrollierenden „Industrien“ wird zunehmend Verständnis entgegengebracht, wichtige Problemlösungen werden verinnerlicht, gleichzeitig geraten alternative Problemlösungen zunehmend aus dem Blick. Diese Haltungen haben mit dazu beigetragen, dass sich die  Ingenieure des Kraftfahrtbundesamts in der Dieselaffäre von ihren jeweiligen Counterparts haben einlullen lassen, so dass die entscheidenden Impulse zur Auslösung des Skandals von einem us-amerikanischen Institut kommen mussten. 

Aus der Perspektive der Unternehmen erwirbt ein Mitarbeiter in seiner Industrie einen intellektuellen und kulturellen  „Grundstock“ von Werten und Handlungsweisen. Es handelt sich dabei um einen allmählichen, sicherlich auch schleichenden Prozess der Identifizierung mit der aktuellen Tätigkeit. Indem ich etwas tue, komme ich gar nicht umhin, mich mit dieser Tätigkeit in der einen oder anderen Weise zu identifizieren. Man gewinnt Spaß an der Sache, für unangenehme Dinge legt man sich Rechtfertigungen zurecht usw.  Wechselt dieser Mitarbeiter auf einen Regierungsposten oder zu einer supranationalen Institution nimmt er die erworbenen Werthaltungen und praktizierten  Vorgehensweisen mit und bringt sie in seiner neuen Tätigkeit mit ein. Fassen wir noch einmal zusammen: Mit dem „Revolving Door Phenomenon“ wird der Umstand bezeichnet, dass Personen zu vergleichbaren Einschätzungen bei ökonomischen  Fragen  aufgrund von inhaltlichen Anpassungsvorgängen in ihren jeweiligen beruflichen Laufbahnen gelangen. Sie gehen  mit einem erfahrungsbeding-ten Bias – einer kognitiven und kulturellen Vorprägung – an ihre jeweiligen Aufgaben heran. Christine Lagarde war beispielweise vor Ihrer Ernennung Chefin des Internationalen Währungsfonds (IMF). In dieser Funktion hat sie eine wesentliche Rolle bei der kreditfinanzierten sogenannten „Griechenlandrettung“ gespielt. Was veranlasst uns zu glauben, dass sie in Ihrer neuen Aufgabe als Präsidentin der EZB und ehemalige französische Ministerin plötzlich eine  kritische Haltung gegenüber dem „Drucken“ billigen Geldes zur Rettung des Kapitalmarktes einnehmen würde. Das bestehende System reproduziert sich immer wieder selbst.  

Es ist sicher in der Politik nicht von Schaden, wenn man auf die Expertise von wirtschaftserfahrenen Politikern zurückgreifen kann.  Man muss nur wissen, was man sich damit einkauft. Gefahr im Verzug ist dann gegeben, wenn das derzeitige ökonomisch-politische „System“ seine eigene Alternativlosigkeit proklamiert. Dann werden handelnde Personen mit alternativen Lebensläufen und divergenten theoretischen Ansätzen plötzlich überlebenswichtig.  Wenn es gelingt, dem „weiter so“ ein „es geht aber auch anders“ entgegenzuhalten     

Zitate:  

Pagliari, Stefano (2012). How Can We Mitigate Capture in Financial Regulation? In: S. Pagliari (Ed.), Making Good Financial Regulation: Towards a Policy Response to Regulatory Capture. (pp. 1-50). International Centre for Financial Regulation. ISBN 9781781485484

Stigler, George J.  (1971). ‘The Theory of Economic Regulation.’ Bell Journal of Economics and Management Science, 2: 3-21.zit. bei Pagliari, S. 5

Zöttl, Ines: Prozesse wegen Schmerzmittelkrise. Die große Abrechnung.  https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/opioid-krise-prozesse-in-den-usa-gegen-sackler-und-purdue-pharma-die-abrechnung-a-1286835.html

zuletzt zugegriffen: 22.6.2020

DW 2019: https://www.dw.com/de/737-max-debakel-kritik-an-boeing-und-faa/a-50806229

zuletzt zugegriffen: 22.6.2020